Hans Renggli

Mozart des Kupferstichs

Mit Lucas van Leyden stellt die Graphische Sammlung der ETH einen grossen Meister des Kupferstichs vor. Bis 2. Februar 2001

Der Renaissancekünstler Lucas van Leyden (1494(?) - 1533) ist hierzulande zu unrecht kaum bekannt. Immerhin war der Zeitgenosse von Albrecht Dürer und Michelangelo der bedeutendste niederländische Kupferstecher des frühen 16. Jahrhunderts. Van Leydens Geburtsjahr ist umstritten. Seine ersten überlieferten Stiche datieren von 1506. Da war er gerade mal 14 Jahre alt, nach anderen Forschungsvermutungen fünf Jahre älter. Wie auch immer - er war ein frühvollendetes Ausnahmetalent, was ihm bereits zu Lebzeiten den Ruf eines Wunderkindes einbrachte. Schon seine ersten Arbeiten bezeugen eine sublime Könnerschaft und weisen Ansätze auf zu einer absolut neuartigen Gestaltung des Helldunkel und der Raumtiefe, womit er sich entschieden vom Charakter der spätgotischen Vorbilder absetzte.

Die Graphische Sammlung der ETH war durch Schenkungen im späten 19. Jahrhundert in den Besitz des einzigen bedeutenden Schweizer Bestands von van Leyden-Grafiken gelangt. Dieser umfasst 267 Blätter, darunter einige Erstauflagenstiche, tiefschwarz gedruckt und von samtiger Erscheinung, die von Kennern als hochkarätige Kostbarkeiten geschätzt werden. Nur 22 Blätter fehlen zur Dokumentation des gesamten bekannten druckgrafischen Werks. Trotzdem war van Leyden erst einmal, 1927, in einer monografischen Ausstellung gezeigt worden. Die jetzt eröffnete umfassende van Leyden-Austellung der Graphischen Sammlung holt das lange Versäumnis nach. Anlass ist die minutiöse kunstwissenschaftlichen Aufarbeitung des vorhandenen Materials durch Michael Matile. Diese schliesst mit der Publikation eines kenntnisreichen Bestandeskalogs ab.

Im Gegensatz zum grossen druckgrafischen Werk, das mit demjenigen von Dürer die Waage hält, sind von Lucas van Leyden nur 26 Zeichnungen überliefert. Das lässt sich teils damit erklären, dass er seine sprühenden Bildideen mit einer feinen Kaltnadel direkt auf die Platte übertrug. Dabei war es seine Spezialität, von den überlieferten ikonografischen Schemata biblischer Szenen abzuweichen und die gängigen Historien um das Moment des Unerwarteten zu bereichern. Gern zog van Leyden auch abgelegene Textquellen heran. So stach er 1908 das wunderbare Blatt "Mohammed und der Mönch Sergius". Auch liebte er es, episodische Schilderungen gegenüber der Haupthandlung hervorzuheben. Im berühmten grossen Blatt "Ecce Homo" von 1510 muss die klein in die Raumtiefe gesetzte Hauptfigur des dornengekrönten Christus gesucht werden. Umsomehr legte van Leyden sein Hauptaugenmerk auf die detailreiche Darstellung des gestikulierenden Pöbels im Vordergrund. Solch lebensnahe Schilderungen von Volksszenen liessen ihn im damaligen Angebot der niederländischen Kunst herausragen, das im Zeichen einer zunehmenden Massenproduktion von formelhaften Bilderzeugnissen überschwemmt wurde. So kam er, dank seiner ausserordentlichen erzählerischen Befähigung, früh zu Rang und Namen. Spätere Generationen erkannten in ihm den Vater der grossen niederländischen Genremalerei.

Schon bald einmal waren seine druckgrafischen Blätter so begehrt, dass er der steigenden Nachfrage nicht mehr nachkommen konnte. Die für ihn erfreulichen logistischen Probleme akzentuierten sich noch durch den ausserordentliche Perfektionismus, der von ihm bezeugt wird. Dieser liess ihn bürgen, dass kein einziges Blatt minderer Qualität seine Werkstatt verliess. Dies freilich erwies sich im Hinblick auf später als vergebliche Liebesmüh. Denn die Nachbesitzer seiner Platten scheuten sich nicht, diese unbedenklich oft durch die Walze zu drehen, so dass das Mehr der heute verfügbaren Drucke den ursprünglichen Nuancenreichtum in keiner Weise mehr vermitteln können.