Hans Renggli

Profilierte Sammlungspolitik des Kunsmuseums Winterhur

Von Edgar Degas bis Gerhard Richter - mit 260 Arbeiten auf Papier präsentiert das Kunstmuseum Winterthur seine wieder auferstandene und glanzvoll erweiterte Graphische Sammlung. Bis 19. November


Die neue Ausstellung des Museums wirbt mit mit der grossen farbigen Pastellzeichnung "Le petit déjeuner aprés le bain" von Edgar Degas u m die Publikumsgunst. Diese Arbeit der klassischen Moderne ist zwar tatsächlich zu sehen, ihre Herausstellung aber strenggenommen eine Irreführung, steht sie doch quer zur profilierten Sammlungspolitik, die das Haus unter der Direktion von Dieter Schwarz seit gut zehn Jahren betreibt. Der Ankauf von 1979 stammt nämlich noch aus einer Zeit, als das Museum beim Erwerb von Zeichnungen keine kohärente Politik verfolgte. Neuerwerbungen für die Graphische Sammlung fielen durch seltene Geschenke zu oder ergaben sich aus sporadischen Gelegenheiten ohne klare sammlerische Zielsetzung. Aus diesem Sachverhalt geht hervor: Die Ausstellung "Arbeiten auf Papier aus der Graphischen Sammlung"beinhaltet weit mehr als die blosse Sichtbarmachung vorhandener Bestände vom Beginn der Moderne bis zur Gegenwart. Vielmehr besteht das eigentliche Thema der Ausstellung darin, im historischen Überblick die Grundsätze einer sinnvollen Museumsarbeit zu reflektieren und exemplarisch darzustellen.

Die Ausstellung zieht eine Zwischenbilanz über die vor zehn Jahren begonnene sammlungspolitische Neuorientierung - ein komplexes Unterfangen. Das ehrgeizige Projekt setzte ausgedehnte kunstwissenschaftliche Recherchen voraus, die Schwarz zusammen mit etlichen jungen Kunsthistorikern während Jahren geleistet hat. Das Resultat liegt nun in einer umfangreichen Publikation vor, die zwei Schwerpunkte hat . Einerseits die Aufarbeitung der wechselhaften Geschichte des Graphischen Kabinetts und andererseits die Dokumentation der jüngst erfolgten Aufwertung der Graphischen Sammlung, die seither beeindruckend gewachsen ist.

Überregionale Bedeutung erlangte die Graphische Sammlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt durch das Engagement von Oskar Reinhart. Dank dem visionären Drängen dieser ausserordentlichen Sammlerpersönlichkeit erhielt das 1916 eröffnete Kunstmuseum nicht nur prächtige Ausstellungssäle mit Oberlicht, sondern auch ein eigentliches Graphisches Kabinett. Reinhart erwarb kontinuierlich Zeichnungen, die sich der wenig bemittelte Kunstverein nie hätte leisten können. Im jungen Museum fand er für eine Weile den geeigneten Ort, seiner Vorliebe für graphische Arbeiten zu frönen. Einen wichtigen Beitrag zum Leben der Sammlung leistete er zudem mit der Finanzierung der Zeitschrift "Das graphische Kabinett". So konnte während zwei Jahrzehnten das ehrgeizige Ziel, "eine Sammlung von Weltrang aufzubauen", vorbildlich wahrgenommen werden. Anschaffungen von Marées, Corot,Van Gogh, Pissarro, Odilon Redon, Hodler, Bonnard, Vuillard, Valloton, Auberjonois, Giovanni Giacometti und vielen mehr gehen auf jene Zeit zurück. Regelmässig fanden qualitätvolle Ausstellungen statt. Im Rückblick kommentiert Dieter Schwarz: "Stolze Hoffnungen und leidenschaftliche Wünsche , aber auch Selbstbewusstsein" haben dem grafischen Kabinett in seinen Anfängen Pate gestanden.

Das Ende dieser heroischen Phase zeichnete sich 1927 ab, als sich Reinhart, ernüchtert von der geringen Resonanz seiner Anstrengungen, zurückzog, um sich ganz seiner privaten Sammlerleidenschaft zu widmen.
Die Erwerbungen gingen nun deutlich zurück, und in den dreissiger und vierziger Jahren findet man kaum mehr internationale Kunst. Nur noch vereinzelt gab es Zuwachs von Bedeutung, wie die Schenkung einer Van Gogh-Zeichnung durch Emil Hahnloser. Das Graphische Kabinett verfiel einem Dornröschenschlaf.

Die nicht immer glückliche Politik der Nachkriegsjahre ist freilich nicht primär dem damaligen Konservator Heinz Keller anzulasten, dessen künstlerische Einsicht ihn durchaus befähigt hätte, entschiedener vorzugehen. Immerhin konnte er beim Kunstverein den Aufbau der Werkgruppe von Mark Tobey durchsetzen und seine Gedächtnisausstellung für Julius Bissier führte zu Schenkungen, die Lisbeth Bissier, die Tochter des Künstlers 1969 dem Museum zukommen liess. Doch die Tatsache war nicht zu ignorieren: Das Museum besass eine Graphische Sammlung mit einer anregenden Vergangenheit, die als Torso liegengeblieben war.

Wie sollte das weitergehen? Schwarz wählte einen mutigen und konsequenten Weg. Nicht stillegen wollte er sondern aktivieren und dabei aus der Gegenwart auf die historischen Bestände antworten. Zunächst schuf er die Bedingungen, um diese Werke erneut im Wechsel zeigen zu können. Das Graphische Kabinett wurde in anderen Räumen wieder geöffnet. Sodann begann man die Bestände konservatorisch und restauratorisch aufzuarbeiten und konzipierte eine weitsichtige Ankaufspolitik. Die Sammlung sollte vom Bestehenden aus kontinuierlich weiterentwickelt werden. Dabei sollten insbesondere bei der Gegenwartskunst gezielt Schwerpunkte gesetzt werden. Das Wiederbelebungsprogramm kam dank grosszügiger Unterstützung aus dem Fond für gemeinnützige Zwecke des Kantons Zürich prächtig voran. Es konnten in in einem absolut erstaunlichen Umfang neue Werke erworben werden. Heute präsentiert sich die Graphische Sammlung in einem völlig neuen Gesicht und spielt innerhalb der Museeumsbestände wieder eine prominente Rolle. Dies verdankt sie nicht zuletzt zahlreichen Geschenken von Seiten des Galerievereins, von Privaten und Freunden des Kunstmuseum, vor allem aber von den Künstlern, die sich dem Museum und Schwarz‘ ausserordentlichem Kunstverstand dankbar verbunden fühlen, wie Roni Horn, Brice Marden, Gerhard Richter Thomas Schütte und viele viele mehr.