Hans Renggli

Tiefblick ins Durcheinander des neuzeitlichen Kunstbetriebs

salon 99 im Aargauer Kunsthaus. Bis 16. Mai

Die GSMBA Aargau (Gesellschaft Schweizer Bildhauer Maler und Architekten) hat alle fünf Jahre Gastrecht im Kunsthaus. Die aktuelle Ausstellung stellt nicht in bekannter Manier selektiv einige Künstlerindividuen zur Schau, sondern rückt den Beruf des Künstlers in seinem sozialen Bezug ins Blickfeld. Damit manifestiert die GSMBA , die in den vergangenen Jahrzehnten um ihr Profil kämpfte, ihren Willen zur Erneuerung ihres Engagements für die "Klasse" der Kunstschaffenden. Sie hat mit der Kuratorin Rayelle Nieman eine Aussenstehende beauftragt, das Ausstellungskonzept zu erarbeiten. Frau Nieman zeiht am Ende des Jahrhunderts historische Bilanz. So befragt ihr Projekt am Thema des Salons nicht nur die aktuelle Lage der Künstlerinnen und Künstler, es schaut auch zurück und blickt in die Zukunft. Dabei war Nieman frei, auch Künstlerinnen und Künstler einzubeziehen, die nicht der GSMBA angehören.

Dass Künstler in ihrer seit je schwachen gesellschaftlichen Position gemeinsam als Berufsgruppe zwecks Verbesserung ihrer Lebenslage auftreten, hat eine lange Geschichte. Im 19. Jahrhundert wurde der Salon für die Künstlerschaft zum Hauptereignis, an dem sie sich ihr Stelldichein mit der neuen bürgerlichen Gesellschaft gab. Der Begriff Salon spiegelt die Verwicklung des "freien" Künstlers mit dem Bürgertum nach dem Statusverlust als Beauftragter von Kirche und Hof. Der zu Reichtum und Macht aufgestiegenen Klasse fiel jetzt die Rolle der Mäzenin und Nährerin zu. Salon 99 zeigt auf, dass diese Konstellation für die Existenzlage des Künstlers noch heute weitgehend zutrifft. Zunehmend trat daneben der Staat als Förderer und Unterstützer in Erscheinung.

Nieman hat die ehrgeizig weitgespannte Ausstellung in eine Abfolge von thematisch bespielten Salons gegliedert, wobei sich die Salons auch über die öffentliche Institution Kunsthaus hinaus in "Privaträume" erstrecken, in die Räume des Forums Schlosshof, in die Werkstattgalerie, in die Auslagen der kantonalen Kioske und in die virtuelle Kunstszene im world wide web. Dies betont den privat-öffentlichen Charakter der Kunstträgerschaft.

Über 150 Künstler wurden einbezogen. Ein Kerngruppe hat mit einem enormen Aufwand das Projekt mitgestaltet. Neben aktuellen und speziell für das Ereignis hergestellten Werken sind auch viele Arbeiten von Aargauer Künstlern aus privaten und öffentlichen Sammlungen zu sehen. Sie spiegeln exemplarisch die Kunstentwicklung des Jahrhunderts. Die zahlreich klingenden Namen bekräftigen zudem die ausserordentlich starke Position des Kantons Aargau innerhalb der Schweizer Kunstszene. Und nicht nur die Künstler, auch die Sammler, Förderer und kunsttragenden Vereine erhalten ihren Auftritt.

Den Einstieg bildet der Rote Salon in der grossen Halle. Er präsentiert sich, aufgestockt zur Galerie, als eine grosse Plattform: Der Salon als Bühne der Schaustellung des Künstlers. In Regalen stehen gegen zweihundert Ordner mit Künstlerdokumentationen, was die die Künstlerschaft als einen Gesellschaftskörper von beträchlichem kollektiven Potential vergegenwärtigt. Auf der Plattform findet sich auch das Schlüsselbild zur Ausstellung, ein Stich mit dem Titel "Exposititon du Salon du Louvre 1987". Dargestellt ist ein festlich herausgeputztes Publikum, das in einem von oben bis unten vollgehängten Saal der Malerei die Referenz erweist. Dieser Salon hat als Prototyp und regelmässiges Forum der französischen Akademie, noch in höfischer Zeit, einen Standard der Kunstvermittlung geprägt, der bis heute in den sogenannten Weihnachtsausstellungen mehr als überlebt hat.
Als ein Modell des Austauschs, das die Pluralität der Künstler und Kunstformen repräsentiert, erhält die traditionelle Jahresausstellung nach den White-Cube-Exzessen der vergangenen Jahrzehnte heute wieder vermehrt Zuspruch: "Es ist ein neues Interesse entstanden an der Alternative zum weissen Galerieraum, der die Bilder isoliert", schreibt Peter Schneemann in seinem Katalogtext zur Geschichte das Salons.

Diese Haltung macht sich auch Nieman zu eigen. Vertrauend auf die "Potenz des Dialogs" scheut sie weder die Konfrontation von ästhetisch Heterogenem noch die die verdichtete, mehrstöckige Hängung. Durch Niemans Konzept wird allein am Beispiel des Kunstschaffens im Kanton Aargau eine kaum zu überschauende Vielfalt der Formen und Positionen greifbar. Nicht Selektion und Wertung stehen im Vordergrund, sondern dass Gewährenlassen der Vielstimmmigkeit im heiteren Durcheinander. Die Salons funktionieren als Gefässe, in denen verschiedenste Künstler-Haltungen sowie unterschiedlichste Positionen der Kunstrezeption und Kunstvermittlung in die Verhandlung geschickt werden. So haben die Akteure des Kunstraums Aarau den Speise-Salon geschaffen, ein Salon dokumentiert das Artist-in-Residence-Programm des Künstlerhauses Boswil, der Salon Amsler stellt eine beispielhafte Aargauer Kunstsammlung vor, der Ausland-Salon gilt den aargauischen Künstler-Vorposten Kairo und Paris, wo Atelierstipendien zu holen sind. Buchstäblich sprechend ist der Grüne Salon von Germaine Frey. Die Hörinstallation vergegenwärtigt in kunstvoller Lesung den reichhaltigen Bestand von Werktiteln des Kunsthauses. Weiter gibt es einen Körper-Salon, einen Portrait-Salon, einen Bücher-Salon, den Salon des Refusés, den grossen, reich bestückten Landschafts-Salon und schliesslich den Digitalen Salon, wo Tastatur und Grossmonitor den Kunstfreund verlocken, sich in die ozeanische Unermesslichkeit der globalen Kunstnetze zu verflüssigen.

Katalog
Zur Ausstellung findet ein grosses Rahmenprogramm mit Vorträgen, Lesungen und Events statt.