Hans Renggli
Lustvolle Blicke auf ein gigantisches Wahrzeichen
"Die Schweizer Autobahn" ist die letzte Ausstellung des Museums
für Gestaltung Zürich unter der Leitung von Martin Heller, dem
neuen künstlerischen Direktor der Expo 01. Fachleute aus verschiedensten
Sparten tragen ein weitgespanntes, unterhaltsames Gesamkunstwerk zusammen.
Für Heller kommt die Ausstellung im richtigen Moment. Mit dem nationalen
und populären Thema liefert er den Tatbeweis seiner Kompetenz als
Manager hochkomplexer, interdisziplinärer Projekte. Bis 9.Mai
Im Zeitalter der Daten-Autobahn erinnert die Ausstellung an das weit greifbarere
Vorbild, jenes Netz der Nationalstrassen, das in der Nachkriegszeit für
lange Zeit den Fortschritt der Schweiz schlechthin repräsentierte.
Die Autobahn ist das grösste Schweizer Bauwerk des Jahrhunderts und
hat unsere Landschaft nachhaltig verändert. Dass sie aber die Schweiz
auch kulturell einschneidend geprägt und umgeformt hat, sei bisher
kaum zur Kenntnis genommen worden, behaupten Martin Heller und Andreas Volk.
Volk hat die Ausstellung wesentlich mitgestaltet und die wissenschaftliche
Basisrecherche durchgeführt. Die Autobahn im kulturellen Gesamtbild
darzustellen bleibt für ihn ein offener Wunsch, zu dessen Erfüllung
die Ausstellung das wuchtige Startsignal geben will.
Dass die Kultur die Autobahn bis anhin völlig geschnitten habe, ist
allerdings eine zugespitzte Behauptung. Immerhin hat der Maler Jean Frederic
Schnyder 1992 die Schweiz an der Biennale Venedig mit einer Serie von Gemälden
vertreten, die in zweihundert Ansichten die A1 von ihren sämtlichen
Brücken aus darstellt. Und Motel, die erste Sitcom des Schweizer Fernsehens,
erkannte schon vor zwanzig Jahren in der Autobahn das zeittypische Milieu
schweizerischer Alltagskultur. Neu und einmalig ist freilich die forschende
Gründlichkeit, die Heller und seine vielen Mitarbeiter dem Thema angedeihen
lassen. Das Ergebnis ist sowohl lehrreich wie auch ausgesprochen unterhaltsam.
Überraschend schafft die Ausstellung das rar gewordene Kunststück,
ausgerechnet am umstrittenen Gegenstand Autobahn, so etwas wie eine positive
Identität der modernen Schweiz zu stiften. Die Auslegung des umfangreichen
Materials aus Politik, Wissenschaft, Technik und Gestaltung dokumentiert
eine unermessliche Gewaltsleistung genuin schweizerischer Prägung.
Das Staunen über das gigantische Werk drängt die Opfer an Landschaft,
Natur und Lebensqualität in den Hintergrund, obwohl auch diese einbezogen
und thematisiert werden.
Zur beflügelnden Wahrnehmung der Autobahn wesentlich bei tragen die
grossformatigen Farbaufnahmen des Westschweizer Fotografen Nicolas Faure.
Während drei Jahren hat Faure mit subjektivem Blick jenes Bauwerk
dokumentiert, das helvetisches Territorium von der Grösse des Zürichsees
zupflastert. Mit Faures Auge gesehen ist die Autobahn alles andere als eine
Tragödie für die Schweizer Landschaft. Sie durchzieht die Gegenden
als ein dynamisch kurvendes Band, das die Räume zäsuriert und
rhythmisiert. Es resultieren mal hochästhetisches Drama, mal subtile
Poesie. Eine Autobahnbrücke, aufgenommen durch das Gespinst eines
Waldes, wandelt sich zum modernen Gedicht. Neben den künstlerischen
zieht Faure auch dokumentarische Register. Man begegnet den Taten der
naturnahen Landschaftskosmetiker: Künstlich angelegte Magerwiesen,
Arrangements mit Findlingen, Biotope und Stützmauerbegrünungen.
Die Lüftungszentrale über dem Tunnelportal brilliert als skulpturale
Meisterleistung. Auch ein Unfall ist dokumentiert mit Rettungshelikopter,
Schaulustigen, Feuerwehr und behelmten Rettern in gelben Schutzanzügen.
Das Drama sieht so wohlgeordnet-putzig aus wie eine Playmobil-Spielzeugszene.
Vor Faures Bildern versöhnt man sich gern, ja stolz, mit der modernen
Schweiz. In zumindest zwei Hinsichten aber lügen die Bilder: Sie lärmen
und sie stinken nicht.
Die Ausstellung ist in vier Teile gegliedert. Für den ersten Kontakt
mit dem Thema sorgt eine interaktive Installation. Individuell mobil - das
heisst am Steuerrad lenkend - kann der Besucher auf einem Lämpchendiagramm
der Schweiz und über Videomonitoren den Bau der Nationalstrassen von
1954 bis heute nachvollziehen. Der zweite Teil zeichnet an einer Vielzahl
von Dokumenten aus Werbung, Wirtschaft und Politik die Geschichte der Schweizer
Autobahn von der ersten utopischen Träumerei bis zur Realisierung
nach. Im dritten Teil stösst der Besucher auf das reale Mass der
Autobahn, wo das Segment eines Brückenkörpers als riesige Holzskulptur
im Massstab 1:1 nachgebaut wurde. Unter den weit über die Hohlkastenträger
hinausragenden Fahrbahnplatten finden sich kunstvoll gefertigte Modelle,
die beispielhaft die ausgeklügelte Konstruktion und Geländeführung
der Autobahn vor Augen führen.
Der vierte Teil erörtert die Schweiz von heute. Nicolas Faures Fotos
ergänzen Videofilme aus dem Studienbereich Film/Video der Hochschule
für Gestaltung und Kunst Zürich. Für Sitzkomfort bei der
zeitaufwendigen Betrachtung der sehenswerten Beiträge sorgt originales
Rastplatz-Mobiliar. Die Menschenmassen aller Herkunft, die heute die Autobahn
befahren, bekommen in den Filmen ein Gesicht: Fernfahrer, Handelsreisende,
Polizisten und Touristen - ihnen allen ist die Autobahn längst selbstverständlich
Welt geworden, in der sie leben, leiden und geniessen, als hätte es
sie immer schon gegeben.
Ein umfangreicher Katalog zur Ausstellung erscheint Ende März