Der Tagtraum
2005 soll das Museum für Kunst der Gegenwart hier einziehen, in diesen grosszügigen Gebäudekomplex im Zentrum der Berner Innenstadt, gleich neben dem Kunstmuseum. Das Haus mit seinem weiten Hof wird dann offen stehen für Übergänge und Konfrontationen, ein Brennpunkt des Austausches zwischen Aktualität und Geschichte der Kunst, ein Hafen und Umschlagplatz für künftige "Medienschiffe".
Seit zwei Jahren arbeitet eine Projektleitung an der Durchsetzung dieses Vorhabens. Ihre Leitidee ist schlicht: Im organisatorischen Rahmen des Berner Kunstmuseums wird bei weitgehender künstlerischer und finanzieller Autonomie ein Zeitfenster für die Kunst der Gegenwart geöffnet. Damit entsteht keine freischwebende neue Institution, auch kein Museum einer Generation, vielmehr wird die alte Funktion des Kunstmuseums, sich mit der Sammlung und Präsentation von Gegenwartskunst zu profilieren, personell verstärkt und um spezifische Räume erweitert. Was aus dem Fokus der jeweils letzten fünfundzwanzig Jahre verschwindet, fällt unter die historische Perspektive des Kunstmuseums oder geht zurück in die Privathäuser; es sei denn, bedeutende Werke können der Öffentlichkeit erhalten werden. Das Kunstmuseum hat immer schon auf die Unterstützung privater Sammlerinnen und Sammler zählen können. Die Stiftung Kunsthalle und Gegenwartsmuseum Bern, die aus den laufenden Ausstellungen der Kunsthalle grössere Arbeiten ankauft, die Stiftung Kunst Heute, welche mit wechselnden Curator-Teams junge Schweizer Kunst sammelt, sowie mehrere Privatsammlungen bilden zusammen mit den Beständen des Berner Kunstmuseums und seiner Stiftungen das heute über 3000 Werke umfassende Potential für die künftige Museumsarbeit.
Im Rahmenvertrag mit Stadt und Kanton Bern hat sich die Stiftung Kunsthalle und Gegenwartsmuseum Bern aber auch verpflichtet, über Leihgaben hinaus einen Betrag von zehn Millionen Franken aus privaten Spenden beizubringen für den Umbau der Gebäude. Gemäss einem Vertrag von Stadt und Kanton Bern werden die gegenwärtig hier angesiedelten Schulen im Sommer 2004 in einen Neubau umziehen, so dass nach einer Umbauzeit von einem Jahr das Museum eröffnet werden kann - zusammen mit dem Paul Klee-Zentrum. Über die Finanzierung des Betriebs wird demnächst im Zusammenhang mit dem Leistungsauftrag des Kunstmuseums entschieden. Die Stadt und die Gemeinden der Region haben bereits ihr Interesse am Projekt bekräftigt. Vielversprechend ist schliesslich das Zusammenspiel mehrerer Institutionen im Bereich der Kunst, vorweg die Beziehung zum ersten Lehrstuhl für Kunst der Gegenwart in der Schweiz, der bereits 2001 an der Universität Bern besetzt wird. Die - in Europa noch immer seltene - Verbindung von Ausstellungsinstitut und Forschungsstätte wird zu einem theoretischen Diskurs auf hohem Niveau beitragen.
Privates wird öffentlich
Das Berner Projekt liegt mit seinem Ausbau einer öffentlichen Kunstsammlung antizyklisch zum aktuellen Trend der Gründung von Privatmuseen. In Zürich sind private Strukturen der Superlative mit globalem Anspruch entstanden oder im Entstehen begriffen. Das Galerien- und Museumszentrum an der Limmatstrasse wird demnächst um die Daros-Collection erweitert; im Jahr 2004 soll die Sammlung Flick, eine der bedeutendsten Sammlungen von Gegenwartskunst, in der Nähe ein eigenes Fabrikareal beziehen. Diese Durchdringung von Marktzentrum und Museumsviertel lässt sich nicht nachahmen. Die massive Konzentration von Definitionsmacht in Zürich eröffnet jedoch die Möglichkeit, in der Entfernung von einer Reisestunde alternativen Positionen eine Plattform zu bieten. KünstlerInnen, KuratorInnen und Interessierte werden in Zukunft vermehrt wieder Arbeits- und Reflexionsräume brauchen, die nicht schon vorgegebenen Regeln und einer gesteuerten Nachfrage unterliegen, sondern in denen die Regeln der Kunst selber Gegenstand der Nachfrage sind. Das Museum für Kunst der Gegenwart Bern muss höchste Risiken bei der Vertiefung eingehen. Es soll ein Ort werden, wie ihn der Maler Alois Lichtsteiner skizziert hat: "Für die Künstler ist es äusserst wichtig im hektischen Geschehen an der Kunstfront mitzuleben, mitzudenken. Je turbulenter, kontroverser und schneller diese Wechsel passieren, umso notwendiger sind jene Orte der langsam anhaltenden Auseinandersetzung, Orte, wo man immer wieder hingehen kann, um dem Gleichen zu begegnen, wo man dann hingehen kann, wenn man etwas nötig hat, wo die Werke darauf warten, dass man sie nutzt, wenn man sich selber in der Entwicklung der eigenen Arbeit irgendwie in ihrer Nähe befindet. Damit wird eine Stadt zur Arbeitsstätte der Künstler, das lokale Denken und Handeln zum globalen und die globale Heimat Teil der lokalen." 2)
Diskursort
Die öffentlichen und privaten Sammlungen und Stiftungen sollen nicht einfach in einer permanenten Ausstellung zusammengeführt, sondern in fortlaufend veränderten Zusammenhängen untersucht und verständlich gemacht werden, auch einem breiteren Publikum. Der Umgang mit zeitgenössischer Kunst erlaubt es, die Künstlerinnen und Künstler selber in den Prozess der Vermittlung einzubinden; ältere Werkgruppen können mit neusten konfrontiert und damit einer vorzeitigen Festschreibung entzogen werden. Das Zeitfenster der Gegenwart ist ein Ort der Begegnung von Menschen und Werken, vor allem aber auch eine Stätte der Produktion. Ein Mäzen wird sich grosszügig für "artists in residence verwenden. Durch die Zusammenarbeit mit der Universität und der Hochschule für Gestaltung, Kunst und Konservierung werden auch "scientists in residence" das Projekt begleiten. Das Museum der Zukunft soll wieder "Museion" sein, wie Peter Weibel mit einem Hinweis auf die ursprüngliche alexandrinische Wortbedeutung anregt: "Bibliothek, Forschungsinstitut, Sammlungen aus den verschiedensten Wissensgebieten." 3)
Die aktuelle Fixierung der Öffentlichkeit auf spektakuläre Museumsbauten übersieht, dass ein Museum nicht nur umbauter Raum, sondern auch geistiger Generator ist, um einen adäquaten Ort für die sich verschiebenden Orte der Kunstwerke zu schaffen. Ein Museum ist nicht zu reduzieren auf das vollendete Werk eines Stararchitekten; es bleibt ein langfristiges Arbeitsverhältnis unter Fachleuten mit einer verbindlichen Beziehung zum Publikum. Es entwirft sich selber als ein permanentes Projekt. Bei "Documenta 11" wird die Ausstellung in Kassel 2002 nur den Abschluss bilden einer Reihe von dezentralen Begegnungsplattformen, die zur Entwicklung der Ausstellung führen.
Diese dynamische Museumskonzeption muss nicht notwendig den Ansprüchen der gängigen Event-Kultur folgen. Gerade in einer Stadt wie Bern, die in einem kleinen, dicht vernetzten Land mit hohem Informationsstand über aktuelle Entwicklungen liegt, jedoch nicht unmittelbar an der Vermarktung der Trends beteiligt ist, lässt sich eine öffentliche Stätte der Produktion und Diskussion mit der intimen Intensität eines Ateliers verbinden. Über die Qualität des Berner Projekts entscheidet, ob der kritische Ansatz der Forschung die Künstlerinnen und Künstler tatsächlich erreicht. Neue Kunstformen verlangen nach einer neuen Begrifflichkeit, in der über sie gesprochen werden kann. Zugleich sollten die konkreten Arbeitsbedingungen und -hypothesen der Künstlerinnen und Künstler die Wissenschaft in ihren hermetischen Deliberationen aufstören. Dann wird auch die historische Perspektive zum gemeinsamen Interesse. Im Unterschied zur Kunsthalle arbeitet das Museum für Kunst der Gegenwart an der Schnittstelle zwischen Ereignis und Erinnerung, es arbeitet an einem nachhaltigen sozialen Gedächtnis. Viele Privatmuseen, denen diese historische Perspektive fehlt, werden dagegen rasch mit der Relativierung ihrer stets brandneuen Bestände konfrontiert sein. Die naive oder allzu pragmatische Ausschliesslichkeit, mit der sich heute viele Institutionen auf die Gegenwart ausrichten, verschenkt das geschichtliche Potential bei der Bestimmung klarer Differenzen, die zur Entwicklung wie zum Verständnis neuster Positionen unabdingbar sind. Alfred H. Barr Jr., Gründungsdirektor des MoMA, sah sein paradigmatisches Museum noch als ein "Torpedo" 4), mit einer "Nase" in der Zukunft und einem "Schwanz" in der jüngsten Vergangenheit, wobei die Objekte spätestens nach fünfzig Jahren wieder abzustossen wären. Mit dem Vertrauen auf die lineare Beschleunigung der kulturellen Entwicklung hat sich inzwischen auch die Bereitschaft zur programmatischen Entsorgung alternder Kunst verloren. Das Modell sich überlagernder Zeitfenster, die Einbindung der jeweiligen Gegenwart in die Strukturen des Kunstmuseums Bern, ist deshalb weit mehr als eine betriebswirtschaftliche Einsicht.
Diskurs über den Ort
Der Diskursort bedingt einen Diskurs über den Ort, den die Kunstwerke schaffen und den sie für ihre Wahrnehmung fordern. In den sechziger Jahren, wo wichtige Wurzeln der Bernischen Sammlungen liegen, wurde versucht, das Dreieck von Atelier, Galerie und Museum zu sprengen. "When Attitudes Become Form", Harald Szeemanns bedeutende Ausstellung in der Kunsthalle von 1969, nannte im Untertitel neben "Werken" vor allem abweichende Haltungen, die sich kaum in traditionelle Institutionen einbinden lassen: "Konzepte, Prozesse, Situationen, Information". Ein Teil der Kunst hatte das Museum verlassen, um an "Sites" spezifisch zu intervenieren. Das Museum für Kunst der Gegenwart wird die "Werke" aus seinen Sammlungen auch in einen Zusammenhang mit den nicht-musealisierbaren Äusserungen stellen müssen. In den achtziger und neunziger Jahren ist ein grosser Teil der Kunst erneut in den weissen Kubus oder in die Black-Box des Museums zurückgekehrt, nicht ohne die Beziehung zur Institution in den Werken selber zu befragen oder durch die Anlehnung an alltägliche Lebensbereiche für den Lifestyle zu öffnen. Ulrich Loock hat mit seinen Ausstellungen in der Kunsthalle Bern wiederholt nach dem "Ort des Werkes" 5) gefragt, vorweg auch in traditionellen Medien wie Skulptur, Malerei und Zeichnung. Inzwischen zieht die Kritik am eurozentristischen Blick das Museum als spezifisch westliche Kulturpraxis in Zweifel. Neben computergestützten interaktiven Installationen, die sich leicht in die Black-Box integrieren lassen, erscheint am Horizont schliesslich die Netzkunst. Sie kennt zunächst keine Verbindung mehr zum physikalischen Raum.
Das künftige Museum wird verstärkt von seiner Ambivalenz als physischer und virtueller Ort ausgehen müssen. Es wird kein statisches Gebilde sein, nicht primär ein Bau, sondern eine Struktur der Übergänge und Passagen, der Begegnungen und Konfrontationen zwischen Wirklichkeiten, aber auch zwischen unterschiedlichen Formen der medialen Wirksamkeit: Graphisches Kabinett und Massenmedium zugleich. "Die grösste Herausforderung für die zweihundertjährige Geschichte des Museums als Ort der Kunst bilden die neuen technischen Medien. Zwischen Museen und Medien entsteht per se eine Opposition. Das Museum ist nämlich ein Diskurs des Ortes, der Präsenz, der Lokation, die Medien hingegen sind ein Diskurs der Ortlosigkeit, der Absenz, der Dislokation". 6)
Durch die Kunst mit neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wird das Museum der Zukunft einen Teil seines Privilegs verlieren, die geeigneten Räume für die Werkpräsentation zu bieten. André Malraux "Museum ohne Wände", das die universelle Mobilität und Verknüpfbarkeit aller Kunst um den Preis ihrer Homogenisierung durch fotografische Reproduktionen gesucht hat, wird dabei kein Modell mehr abgeben. Kunst im Internet reflektiert auch ihre spezifischen Produktions- und Distributionsbedingungen, sie ist daher genuin nicht in den euklidischen Raum übertragbar. Jedes Netzprojekt kann durch eine unbegrenzte Zahl von Individuen zu einem frei wählbaren Zeitpunkt dezentral abgerufen werden. Es besetzt keinen Raum ausser Speicherplatz auf einem Server; es kennt keine benennbare Autorschaft und keine Besitzerinnen oder Besitzer, zumindest wenn das interaktive Potential des Mediums ausgeschöpft wird. Zentrale Voraussetzungen für die traditionellen Museumsfunktionen des Sammelns und Vermittelns müssen daher neu geklärt sein.
Eine Option des Museums, mit den kommenden Technologien umzugehen, könnte darin bestehen, als selbständige Fachagentur auf dem Netz zu kommunizieren mit einem Label, das künstlerische Qualität in der Selektion verbürgt. Näher an der unabhängigen Praxis im Netz liegt ein Pilotprojekt, das im Sommer 2001 mit einer tripolaren Kooperation beginnt zwischen der Netzplattform Xcult 7) von Reinhard Storz, dem Museum für Kommunikation in Bern sowie Jobst Wagner, Privatsammler und Projektleiter des Museums für Kunst der Gegenwart. Diese temporäre Zusammenarbeit zwischen dem Herausgeber einer Netzplattform, einem kulturhistorischen Museum und einem Museumsprojekt im Kunstbereich soll die aufkommenden Fragen ausloten, ohne die kuratorische Eigenständigkeit der Netzplattform sogleich wieder den Regeln bestehender Institutionen zu unterwerfen.
Jenseits der Alternative einer Auflösung ins Netz oder der fundamentalistischen Abgrenzung im Sinne von "Stecker raus!", dürften dem Museum Möglichkeiten bleiben, seine Architektur einzubringen. Menschen, die sich in virtuellen Räumen bewegen, werden weiterhin vielleicht sogar verstärkt - reale Räume brauchen, um sich auszutauschen. Schliesslich werden die KünstlerInnen auch in älteren Medien die Wahrnehmungsverschiebungen durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien verarbeiten. Das Museum kann künftig ein Ort des Übergangs zwischen allen Medien sein, wenn es neben Raum für Bilder, plastische Gegenstände, Installationen und Projektionen auch Begegnungsräume schafft mit einer neuartigen Mischung aus offener Lounge, Vorlesungssaal und Netzkabinett. Jedenfalls wird die Architektur nicht mehr in allen Teilen den strengen Klima- und Sicherheitskriterien entsprechen müssen, was die Öffnung des Hauses in den Stadtraum erlaubt. Die Gebäude im Zentrum Berns, mit einer Front hin zum Waisenhausplatz und einem Hof für Aktivitäten unter freiem Himmel, bieten dafür ideale Voraussetzungen. Alle Formen von Kunst im Museum verbindet die intellektuelle Arbeit in der Begründung der Auswahl und Verknüpfung von Werken, die wissenschaftliche Vertiefung ihres Verständnisses und die soziale Differenzierung bei der Vermittlung an reale Individuen und Gruppen.
Lokales Netzwerk
Diese Öffnung der Institution bedingt zugleich eine Konzentration auf spezifische Kompetenzen im Kontext der Museen vor Ort. Unter der Herrschaft einer Event-Kultur, in der alle alles irgendwie tun, ist es befreiend, bewusst Dinge nicht zu tun. Bern bietet sich die einmalige Chance, in einer kleineren Stadt ein verdichtetes lokales Netzwerk von Kunstinstitutionen aufzubauen, die sich in ihren Kernkompetenzen gegenseitig herausfordern und ergänzen. Eine Arbeitsgruppe aus Politik und Kunst beschäftigt sich zur Zeit mit dem inhaltlichen, juristischen und betrieblichen Gesamtkonzept der Kunststadt Bern im Jahr 2005. Die internationale Attraktivität des künftigen Paul Klee-Zentrums muss zum Impuls werden für den Aufbruch und die Neuorientierung der bestehenden Kunstinstitute.
Die alte Unterscheidung zwischen Museum und Kunsthalle, die auf der Trennung von Sammlung und Ausstellungsbetrieb beruht, ist nicht länger gültig, da die Kunsthalle seit 1988 über ihre Stiftung eine Sammlung aufbaut und das Museum längst schon Ausstellungen im Bereich der Gegenwart zeigt. Eine neue Differenzierung der Aufgaben sollte davon ausgehen, dass die Kunsthalle neuste, zukunftsweisende Entwicklungen aufspürt, während das Kunstmuseum in seinem Zeitfenster der Gegenwart eine zweite und dritte Sicht auf die internationalen Positionen der Kunsthalle, aber auch auf Entdeckungen aus der regional fokussierten Tätigkeit der Stadtgalerie vermittelt. Das Museum für Kunst der Gegenwart wird die Spuren der ersten Auseinandersetzungen mit neusten künstlerischen Ansätzen und Vermittlungsformen aufnehmen, um sie durch eine vielperspektivische Wiederbetrachtung dem kulturellen Langzeitgedächtnis einzuschreiben. Was heute Zukunft ist, bedarf morgen der Vergegenwärtigung. Neben seinem aktuellen Fenster wird das Kunstmuseum vermehrt wieder historische Ansätze entwickeln und in neuen, überraschenden Formen präsentieren, während das Klee-Zentrum seinen Schwerpunkt in der Vermittlung und Erforschung der Klassischen Moderne gesetzt hat, erweitert um ein Kindermuseum.
In den meisten Städten steht heute die Funktion des Kunstmuseums als lokales Leading-House zur Diskussion. Viele private Sammlerinnen und Sammler ziehen es vor, ihre Bestände nicht mehr dem öffentlichen Museum zur Verfügung zu stellen, sondern ein Privatmuseum zu gründen mit Mitteln, die raschere, persönlichere, oft auch bei weitem grosszügigere Entscheidungen erlauben. Die Idee des einen, die Jahrhunderte übergreifenden, enzyklopädischen Kunstmuseums vor Ort scheint im Augenblick überholt, während die Partikularisierung der Ausstellungssituationen, die Gründung von Zentren für einzelne Medien unmittelbar eine lebhaftere Kultur verspricht. Auch das Projekt des Museums für Kunst der Gegenwart in Bern bietet keine endgültige Antwort auf die weithin diagnostizierte "Krise" der Kunstmuseen. Es verschärft die Fragen an den Umgang mit den historischen Beständen sogar. Von einer echten Krise allerdings kann nur dann gesprochen werden, wenn die alten Institutionen nicht mehr fähig sind, sich der fortdauernden Anfechtung durch die Kunst zu stellen. Der weltweite Run auf die Gegenwart, der oft mit der Beschränkung der finanziellen Ressourcen begründet wird, hat bereits zu einem beschleunigten Anstieg der Preise zeitgenössischer Kunst geführt und könnte bald schon die Euphorie dämpfen. In Städten wie Bern jedenfalls wird die Präzision und Eigenständigkeit der begrenzten Auswahl, die Permanenz der Werke vor Ort und die Qualität der inhaltlichen Auseinandersetzungen über die Attraktivität des Museums entscheiden.
Momentaufnahme
Gegenwart kann alles sein, was wir uns vergegenwärtigen. In einer linearen Konstruktion von Zeit meint sie einen wandernden Zeitpunkt, die mobile Stunde Null und ihr unmittelbares Umfeld. Insofern ist ein Museum für Kunst der Gegenwart auf längere Sicht eine reine Struktur, der sich wechselnde Inhalte einschreiben werden. Da sich die Kunst nicht linear extrapolieren lässt, kann von dieser Struktur doch nur anhand der konkreten Inhalte von heute gesprochen werden. Das vorliegende Buch zeigt das aktuelle Potential erstmals in einer übergreifenden Werkauswahl der öffentlichen und privaten Sammlungen und Stiftungen, ergänzt um wenige, gezielte Rückblenden durch ältere Werke aus dem Kunstmuseum. Diese Auswahl ist weder repräsentativ noch beliebig, vielmehr will sie in wichtigen Beiträgen zum fortgesetzten freien Umgang mit den einzelnen Positionen verführen. Die zwei Streiflichter von Claudia Spinelli und Ralf Beil nehmen im vorliegenden Buch diese Herausforderung exemplarisch an.
Die Auswahl und die Abfolge der Abbildungen stellt Fragen an die künftige Museumsgestaltung: Wie lässt sich in der Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen Kunstentwicklung eine sinnvolle Anordnung von Arbeiten finden, die das einzelne Werk respektiert und gleichzeitig bedeutende Beziehungen schafft? Was bewahrt vor Beliebigkeit, wenn selbst der eindeutige Mainstream entfällt, den das Museum dokumentieren müsste? Noch in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren die Museen beherrscht von der Idee, zentrale KünstlerInnen mit möglichst wichtigen Beiträgen zu vertreten (Joseph Beuys, Bruce Nauman, Gerhard Richter, Louise Bourgeois...). Der globale Konsens führte zur Uniformität der Sammlungen weltweit. Heute ist die Intensität der lokalen Brechung globaler Tendenzen ebenso von Interesse. Auch die sogenannt "Neuen Medien" werden kein Leitmedium mehr bilden. Dagegen besteht eine Gleichwertigkeit aller Gattungen -Film, Foto, Graphik, Installation, Malerei, Skulptur, Performance, Video, Zeichnung, neue Informations- und Kommunikationstechnologien - , ihrer Mischformen und der divergierenden Haltungen, die sowohl in der Sammlungspolitik wie in der Präsentationspraxis zum Ausdruck kommen muss. Der folgende Bildteil nimmt konkurrierende Verknüpfungsregeln gleichzeitig auf: die Chronologie oder Genealogie, motivische, formale und medienspezifische Bezüge. Alternative Taxonomien bleiben zu entwickeln. So hat das MoMA beispielsweise seine zeitgenössischen Bestände kürzlich in freien thematischen Zyklen vorgestellt, wie ,Innocence and Experience new, and frequently dark, imagery of childhood; Actual Size the issue of scale, from the minuscule to the massive; Architecture Hot and Cold architecturre as the frame for art and architecture as arts subject; Sets and Situations photography to show obviously fabricated sets. 8)
Dieses Buch kann die künftige Museumspraxis nicht vorwegnehmen, aber durchaus ein temporäres Dokument öffnen: open window.
Situationen
Markus Raetz, 11 Punkte °° Situationen, 1968, Chromstahl graviert, Höhe 4,5mm, Breite 4,9cm, Tiefe 5,9cm: In das kreditkartengrosse Plättchen eingraviert ist neben dem Namen des Künstlers, des Träger "Toni Gerber" und dem Werktitel noch ein Kreuz mit ausgespartem Schnittpunkt. Jede der elf Personen, die eines dieser Plättchen auf sich trägt, bildet den mobilen Eckpunkt einer ständig sich verändernden Geometrie, einer Situation in unzählbaren Variationen. Aus allen sich vorzustellenden Linien ist über die Jahre ein fiktiver Globus aus Linien entstanden, mit einzelnen Ausschreitungen und fetten Balken, dort wo sich Wege wiederholen. Ein Punkt ruht seit 1994 im Kunstmuseum Bern. Damit ist diese Sammlung zum festen Pol eines imaginären Netzwerks geworden, realer Punkt in einer flüchtigen Situation, die in der Vorstellung, und dort allein, sinnlich besteht. Auch das künftige Museum muss ein Knotenpunkt werden von "°° Situationen" und Ausgangspunkt für jene ernsthaften Eskapaden, die Guy Debord in seiner "Theorie des Umherschweifens" bezeichnete: "Eine oder mehrere Personen, die sich dem Umherschweifen widmen, verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die ihnen im allgemeinen bekannten Bewegungs- bzw. Handlungsmotive, auf ihre Beziehungen, Arbeits- und Freizeitbeschäftigungen, um sich den Anregungen des Geländes und den ihm entsprechenden Bewegungen zu überlassen." 9) Von "Surfen im Netz" war noch nicht die Rede.
Dieser Text ist erstmals erschienen in
"Zeitfenster Das Projekt Museum für Kunst der Gegenwart Bern", Projektleitung MKG, Bern, 2001