Hans Rudolf Reust

Im dunklen Weltteil


zu Luc Tuymans‘ neusten Bildern




"My project is an effort to avert
the critical gaze from the
racial object to the racial
subject; from the described
and the imagined to the
describers and imaginers; from
the serving to the served."
Toni Morrison


II.

"Mwana Ki Toko, The beautiful White Man": So nannten die Völker Kongos ihr Staatsoberhaupt, König Baudouin von Belgien. Luc Tuymans hat ihn gemalt, wie er Mitte der fünfziger Jahre in blendend weisser Marineuniform die kleine Treppe eines Jets herabsteigt, ein klein wenig zu steif für seine elegante, schlanke Gestalt, die Hand fest um den Degen geklammert, die Augen durch eine Sonnenbrille geschützt und versteckt, zudringlichen Blicken entzogen. Das Bild Baudouins zeigt einen grossen Auftritt in grosser Helle, der zwischen medial inszenierter Blendung und tropischem Licht oszilliert. Die dunklen Brillenaugen geben der Figur etwas Insektenhaftes. Damit erfährt die klassische Form des Monarchenporträts eine subtile Brechung, ähnlich den Darstellungen der spanischen Granden bei Goya. Der Aufteilung des Hintergrunds folgend, wird Baudouins langer Körper in kleine, wie Kuben gemalte Segmente geteilt, als könnte sich jede Partie dieser Malerei auch gegen die anderen verselbständigen. Die Einheit der Gestalt steht in Spannung zu ihrer Auflösung in malerische Abdomen.

In Tuymans’ Werk erschliessen sich weitere Bedeutungsschichten eines Bildes oft durch den genau konzipierten Kontext der ersten Ausstellung. Vielfach sind es die räumlichen Bedingungen, welche eine bestimmte Anzahl und Konstellation von Werken verlangen. Schon beim Malen besteht eine präzise Vorstellung davon, wie die einzelnen Bilder allein, untereinander und im Raum ihrer ersten Präsentation operieren werden. Im jüngsten Zyklus für die Galerie David Zwirner in New York steht dem ganzfigurigen Porträt des Monarchen unter anderem das leicht kleinere Dreiviertelporträt eines schwarzen Mannes gegenüber: Ein wenig von der Seite in das schmale, hohe Bildfenster gewendet, tritt dieser nur mit Lendentuch und Turban bekleidete, dunkel glänzende, muskulöse Körper unerwartet aus der Finsternis auf, wie ungebeten: "In der Ferne waren undeutlich die schwarzen Schatten von Menschen zu sehen, die dem dunklen Waldrand entlanghuschten, und nahe am Fluss, in der Sonne, standen zwei Bronzefiguren mit riesigen Speeren in den Händen und phantastischen Kopfbedeckungen aus gefleckten Fellstücken, kriegerisch und bewegungslos wie Statuen." (Joseph Conrad)1 Etwas beklemmend Fremdes liegt auch über Tuymans’ Figur, als wäre sie nicht ganz lebendig. Das Bild wurde tatsächlich nach einer Dekorstatue gemalt, die mitten im Serviceteil eines Antwerpener Restaurants steht. Die Gipsfigur ist leicht kleiner als Lebensgrösse. In ihrer lackierten Oberfläche glänzt das verhaltene Raumlicht. Erst die Malerei verleiht dieser Statue jenen Körper, der sich beunruhigend zwischen Erstarrung und Belebung bewegt. Lebendig wird er schliesslich durch die Projektionen eines weissen Publikums. Animiert durch Sporterfolge oder Hip Hop, schwankt seine Verklärung des schwarzen Körpers zwischen Erotisierung und Dämonisierung.

Auch in der künstlerischen Wahrnehmung von Weissen bleiben schwarze Menschen meist anonym, wie die Gestalten, die in der angeführten Passage Joseph Conrads namenlos aus dem Dunkel auftreten und wieder ins Dunkel verschwinden. Die Lippen in ihrer Grösse überhöht, den Blick "wilder" gemalt, und schon werden Fantasien wachgerufen. Luc Tuymans geht mit seinem Bild direkt auf diese Stereotypen ein. Er geht aber auch einen Schritt weiter, indem er die Figur nicht als passive Projektionsfläche malt, sondern sie aktiv werden lässt. Während der König durch die Malerei anonymisiert wird, erhält der namenlose schwarze Mann eine Identität: Er wirft einen forschend fordernden Blick zurück auf die Voyeure.


II.

Die Gegenüberstellung dieser beiden Porträts schafft einen unmittelbaren Bezug zur belgischen Kolonialgeschichte im Kongo, die durch jüngste Publikationen in Belgien selber aus dem Dunkel ihrer Verdrängung geholt wurde 2). Zwischen der Berliner Afrika-Konferenz von 1885 und 1906 geschah im Kongo-Freistaat ein Genozid, dem gegen zehn Millionen Menschen durch Mord, Hunger und Krankheiten zum Opfer fielen. Es gehört zu den zynischen Lehrstücken staatlicher Medienarbeit, dass Leopold II. unter dem Vorwand geographischer Forschung und der philanthropischen Behauptung, den Sklavenhandel zu unterbinden, eines der brutalsten Systeme von Zwangsarbeit einrichten und über Jahrzehnte aufrechterhalten konnte. Die Suche nach Elfenbein, später nach Kautschuk für die Reifen der einsetzenden Autoindustrie, wurde mit Folter, Geiselnahme von Frauen und Kindern und mit gezielten Massenmorden erzwungen.

Ein Leopardenfell breitet sich als eine Textur dunkler Punkte über die Leinwand hin aus. In den rhythmisch sich versammelnden und auseinanderdriftenden Pinselspuren präsentiert die Malerei ihre eigene Haut, und allein das rasch lesbare Motiv deutet an, dass hier nicht um tachistische Malerei, sondern um gemalte Flecken geht. Der Blick zerstreut sich entlang der bemalten Oberfläche, um sich über das Motiv unvermittelt in einen Illusionsraum zu wenden. Fasziniert bleiben wir an einzelnen Punkten hängen, driften ab, um doch nicht loszukommen. Tiefe Schatten und wärmendes Licht liegen über dem ausgebreiteten Fell, dabei scheint es sich der Wahrnehmung zu entziehen, als wäre es nur der eingezoomte Bereich einer umfassenderen Szenerie, die wir nicht überblicken, nie kontrollieren können. Im scharfen Ausschnitt von Tuymans’ Bild wird das Fell von zwei schwarzen Händen, die oben links eben noch zu sehen sind, ausgelegt vor einem wartenden König, dessen Füsse knapp in die rechte obere Bildecke hineinragen. Afrikanische Herrscher trugen Leopardenfelle als Machtsymbol an der Mütze. Baudouin lässt sich das Fell mit der Anspielung auf einen roten Teppich auslegen, um sich als König über zwei Kulturen zu legitimieren. Der Völkermord, der seine Macht begründet hat, lässt das kolonialisierte Herrschaftssymbol zum Indiz für westlichen Kannibalismus werden. Das abgezogene Tierfell erinnert daran, dass die "Zivilisierung" des "dunklen Weltteils" zu den dunkelsten Seiten einer aufgeklärten Zivilisation gehört.

Die Werkgruppe zum Kongo schliesst bei Tuymans’ Auseinandersetzung mit dem Holocaust an und damit bei der Darstellung des Unvorstellbaren. So wenig wie der leere Raum von "Gaskamer" (1986) das Geschehene fasst, so wenig zeigt ein Fell oder das Porträt einer Statue die verdrängte Geschichte. Erst mit dem Bewusstsein dessen, was das Bild nicht zeigt, werden Dimensionen des Grauens spürbar. Die Malerei kommt, wie jedes Gedächtnis, stets zu spät und zu früh. Sie vermittelt zwischen dem uneinholbaren Moment der Vergangenheit und einer Reflexion, die ihr erst entspringt. Luc Tuymans’ Bilder zeigen diese Medialität, in dem sie Elemente der medialen Vorlagen aufnehmen, nach denen sie gemalt wurden: Die Flüchtigkeit und das Licht von Fotopapieren, Film- oder Videostills. Mehrere Werke aus dem aktuellen Kontext sind in der Tat nach ausgewählten Stills aus einem Film über Baudouins Staatsbesuch im Kongo entstanden. Unschärfen, Unkenntlichkeiten, Auslöschungen und ein filmischer Fokus öffnen jene Lücken im Bild, bei denen die Erinnerung der Betrachtenden einsetzt.

Luc Tuymans’ Werk gilt bis heute als vorwiegend "psychologisch", von Schock ist die Rede, von Terror. Dabei wird seine konzeptuelle Arbeit übersehen, die auf einem spezifisch europäischen Bewusstsein über die historische Bedingtheit psychischer Vorgänge beruht. Bereits in früheren Werkgruppen hat er sich offen mit politischen Verhältnissen auseinandergesetzt: in "Heimat" (1995), einer Ausstellung in der Galerie ZENO X in Antwerpen, welche direkt auf die wachsende Präsenz des rechtsradikalen Flamse Blok in Antwerpen einging; oder durch "Heritage" (1996) bei David Zwirner in New York, einer Beschäftigung aus europäischer Perspektive mit der amerikanischen Geschichtskonstruktion. Die historisch-politische Dimension der jüngsten Arbeiten wird offensichtlich mit dem Porträt Patrice Emery Lumumbas (1925-1961), des ersten frei gewählten Ministerpräsidenten der unabhängigen Republik Kongo, welcher nach wenigen Monaten im Amt von einer durch den Westen unterstützten Bewegung um Mobutu ermordet wurde. Tuymans schliesst damit an eine aktuelle Diskussion in Belgien an, die durch jüngste Studien 3) über die Verwicklung des belgischen Staates, des CIA und der Vereinten Nationen in die Ermordung Lumumbas ausgelöst wurde.

Zu erinnern wäre in diesem Zusammenhang an den fünfzehnteiligen Zyklus der RAF-Bilder von Gerhard Richter: "18. Oktober 1977" (1988). Während Richter mit seinen Bildern explizit eine kathartische Wirkung der Malerei erreichen wollte - "Trauer und Mitleid" anstelle des "Entsetzens" 4) –, sucht Tuymans die Blossstellung des Unausgesprochenen, den ideologieskeptischen Schnitt ins Bewusstsein, der die Fragen an die Geschichte wie an die Malerei ohne Distanzierung durch Trauerarbeit offen hält.

Drei Tage nach Lumumbas Ermordung haben belgische Söldner seine Leiche ausgegraben und in einem Säurebad aufgelöst, wobei einer von ihnen später gestand, drei Zähne seines Opfers persönlich aufbewahrt zu haben. Die weissen Handschuhe mit den Zähnen werden in Luc Tuymans’ Malerei zum Punktum eines traumatisierten Gedächtnisses. Der Genozid bleibt undarstellbar. Tuymans versucht sich denn auch nicht an den Bergen von abgehackten Händen, die in der weltweiten Kampagne gegen die belgische Kolonialherrschaft um 1900 zum Symbol für das Menschheitsverbrechen geworden waren. Er malt kleinste, scheinbar nebensächliche Momente, die das individuelle Gedächtnis unvorbereitet treffen und sich darin festsetzen. Die Paranoia der Mörder, die zur Auslöschung von Lumumbas Leiche geführt hat, erfasst die Malerei.


III.

Politisch sind die Kongo-Bilder nicht zuletzt, weil sie in den aktuellen Diskurs um Kunst aus Afrika in den internationalen Grossausstellungen eingreifen. Dieser Diskurs spielt sich im Kontext der neusten ökonomischen Globalisierungswelle ab und spiegelt ihre Widersprüche. Der Fokussierung auf das Verschwinden aller traditionellen Differenzen durch Migration und globale Kommunikation steht die Forderung nach neuen, an den ökonomischen Differenzen kritisch geschärften kulturellen Identitäten gegenüber.

Luc Tuymans führt mit seiner jüngsten Werkreihe eine Differenz in der westlichen Wahrnehmung ein. Seine Bilder geben nicht vor, über oder stellvertretend für Afrika zu sprechen. Indem er sich ausschliesslich seiner eigenen belgischen Geschichte zuwendet, entgeht er der Gefahr einer Romantisierung des dunklen Unbekannten, wie sie die Kunst aufgeklärter Weisser durchzieht. Unter dem Titel "Romancing the Shadow" hat Toni Morrison die amerikanische Literatur des 19. Jhdts. untersucht. Sie zeigt auf, wie weisse Autoren ihre eigenen Identitätskonflikte und Befreiungsfantasien auf eine spezifische Konstruktion von "Blackness" übertragen haben: "Black slavery enriched the country’s creative possibilities. For in that construction of blackness and enslavement could be found not only the not-free but also, with the dramatic polarity created by skin color, the projection of not-me. The result was a playground for the imagination. What rose up out of collective needs to allay internal fears and to rationalize external exploitation was an American Africanism – a fabricated brew of darkness, otherness, alarm, and desire that is uniquely American. (There also exists, of course, a European Africanism with a counterpart in colonial literature.)” 5)

Luc Tuymans betreibt mit seiner Malerei die Demystifizierung dunkler Stellen in der eigenen Wahrnehmung. Die Überhelle, die sich in vielen seiner Bilder bis zur verletzenden Blendung steigert, erweist sich hier als eine Absage an das verklärende Pathos des Schattens. Undarstellbar ist nicht, was der Erhellung entzogen bleibt, sondern das, was sich einer übergreifenden Konstruktion von "Geschichte" verweigert. Kunst dient nicht der globalen Erhärtung von Fakten; eher stellt sie sich einem partikularen "Gedächtnis", das nicht zur Ruhe kommt. Die höchste Statik des Bildes ist in Tuymans’ Malerei keine Festlegung von Inhalten, vielmehr eine Fixierung des Denkens an virulente Punkte. Zwischen den einzelnen Werken in der Konstellation der Kongo-Bilder beginnt die Erhellung eines "dunklen Weltteils" in Europa.



1) Joseph Conrad, Herz der Finsternis, Zürich / München 1998, S. 117
2) Vgl. Adam Hochschild, Schatten über dem Kongo, Die Gechichte eines der grossen, fast vergessenen Menscheitsverbrechen, Stuttgart 2000. (Adam Hochschild, King Leopold’s Ghost. A Story of Greed, Terror and Heroism in Colonial Africa, Boston / New York, 1998)
3) Ludo de Witte, De moord op Lumumba, Leuven 1999
4) Gerhard Richter im Gespräch mit Jan Thorn-Prikker, in: Parkett NO 19, 1989, S. 129ff..
5) Toni Morrison, Romancing the Shadow, in: T.M., Playing in the Dark – Whiteness and the Literary Imagination, New York, 1993, p. 38.


Dieser Text ist erstmals erschienen in
"Parkett No. 60 / 2000", Zürich / New York, 2000