Giaco Schiesser


Zur Zukunft der Kunstausbildung

10 Thesen anlässlich 20 Jahre Studiengang Bildende Kunst (1985 – 2005)*



Liebe Anwesende

Lassen Sie mich mit drei knappen Vorbemerkungen beginnen.
1. Ich werde in den folgenden 15 Minuten keinen Vortrag halten, sondern Ihnen einige Thesen unter einem Motto vortragen. Das schien mir angesichts der Grösse des Podiums und im Hinblick auf die erwünschte Diskussion auch mit Ihnen angemessener.
2. Dass es zehn Thesen geworden sind, ist nicht christliche Symbolik, sondern Zufall.
3. Wie schon Cornelius Sulla, ein römischer Feldherr und Staatsmann, sagte: <Für alles bleibt keine Zeit, also wähle aus!>. Es gäbe also auch anderes und mehr zu sagen, als Sie im folgenden hören werden.



A (viele): „Bologna ist ein neoliberales Projekt!“
B (wenige): „– Ja, - und?“



These I
Allgemein gilt: Die Kunstausbildung in Europa ist in Krise oder sieht sich zumindest vor Herausforderungen gestellt, die „Bologna“ kenntlich macht, die aber nicht von „Bologna“ verursacht sind.

These II
Ursache dieser Krise bzw. der Herausforderung ist: ein Epochenwechsel wie er zuletzt vor zweihundert Jahren stattgefunden hat: Damals von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft. Heute von der Industriegesellschaft oder Fordismus zum: <Postfordismus> (Joachim Hirsch) , <Informationszeitalter>, <Wissensgesellschaft>, <Postmoderne> (François Lyotard), <High-Tech-Kapitalismus> (Wolfgang Fritz Haug), <CyberSociety> (Achim Bühl), <Netzwerkgesellschaft> (Manuel Castells), <Post-Postmoderne> oder <Post-Informationszeitalter> (Nicholas Negroponte) oder wie die Begriffe alle heissen. So tastend, keck behauptend oder normativ festschreibend diese zur Zeit im Umlauf befindlichen Begriffe daherkommen, so unterschiedlich ihre Implikationen sind, sie verweisen allesamt darauf, dass wir in Zeiten eines Epochenumbruchs leben. In der Fachliteratur besteht heute bei allen sonstigen Divergenzen Einigkeit darüber, dass die Digitalisierung und die damit verbundene Computerisierung und Vernetzung gewaltige Verschiebungen und Verwerfungen mit sich bringen.

These III
Epochenumbrüche sind dadurch gekennzeichnet, dass sich die Paradigmen in allen gesellschaftlichen Bereichen – Ökonomie, Politik, Kultur - fundamental ändern. In unserem Falle ist von besonderem Interesse: der Bereich der Kultur und dort insbesondere die Kunstausbildung, das heisst die Curricula-Vorstellungen darüber, wie heute KünstlerInnen-Subjekte auszubilden seien.

These IV
Der im Gang befindliche Epochenumbruch hat auf die Kunstausbildung und für heutige KünstlerInnen-Subjekte eine mindestens doppelte Auswirkung:
a) ist die Bedeutung von Medialität und Technologie exponentiell gewachsen und entsprechend in Rechnung zu stellen
b) wird die Position auch der Künstler, der KünstlerInnen in unserer Gesellschaft fundamental verändert.

These V
Zu a): insbesondere die Kunstwissenschaften zeichnen sich durch eine im Vergleich mit den anderen Geisteswissenschaften noch längst nicht überwundene Technologie- und Medialitätsvergessenheit aus, die dringen zu überwinden ist.

These VI
Zu b): „Kreativität“, „Originalität“, „Selbstbezüglichkeit“, „Kompromisslosigkeit“, „Hartnäckigkeit“, „Neugier“ - oder welche Begriffe und Begriffskombinationen man für das spezifisch Künstlerische verwenden will -, alle diese Eigenschaften sind nicht mehr länger das Privileg der Gruppe von Künstlerinnen-Subjekten, im heutigen Zeitalter ist sie zunmehmend von allen Arbeits-Subjekten gefordert. In den Worten eines der führenden Theroretikers der „immateriellen Arbeit“: Der Kapitalismus oder „unsere real existierende Gesellschaft“, wenn Ihnen der in der englischen Umgangssprache gängige Begriff nicht gefällt, benötigt perspektivisch, und in den Feldern, in denen die AbgängerInnen einer Kunst- und Medienhochschule tätig sein werden, bereits heute äusserst kreative Subjekte, Subjekte, die aktiv, vielseitig interessiert und «reich an Wissen» , das heisst, Subjekte, die in der Lage sind «intellektuelle Fähigkeiten, handwerkliches Geschick, Kreativität, Imagination, technische Kenntnisse und manuelle Fertigkeit“ zu kombinieren, «unternehmerische Entscheidungen zu treffen, innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse zu intervenieren und soziale Kooperationen zu organisieren“ (Maurizio Lazzarato) - kurz Subjekte, die „Kunst als Methode“ – einer der Leitideen des Studiengangs Medien & Kunst der HGKZ - und die wesentliche, bisher KünstlerInnen zugeschriebene Eigenschaften entwickeln müssen.

These VII
Eine solche gesellschaftliche Situation bedeutet den Tod des bisherigen Künstlers, der bisherigen Künstlerin: das Ende eines spezifischen künstlerischen Habitus durch seine Verallgemeinerung, das heisst: durch seine Demokratisierung. Dieser Tod ist zu begrüssen.

These VIII
Ist also eine Kunstausbildung auf der Höhe ihrer Zeit ein Selbstwiderspruch? Muss sie sich – enttäuscht und zugleich empört -, oder kann sie sich – fröhlich –also selber abschaffen?
Nein, wenn a) das Ziel nicht ist, zur Affirmation der besten aller Welten, der Informationsgesellschaft oder wie Sie sie nennen wollen (s. oben), beizutragen und b) wenn Sie sich klar machen, dass Kritik oder gar Veränderungen der Gesellschaft nie nur von einem Ort ausgeht, sondern sich an vielen Orten gleichzeitig und nur rhizomatisch vernetzt ereignet.
Es braucht dazu KünstlerInnnen, die uns mit ihren Themen und Fragestellungen, ihren ästhetischen Werken, ihren sinnlichen Artefakten, neue Wahrnehmungs- und Denkweisen, neue Erfahrungsmodelle, Kartografie- und Navigationsinstrumente an die Hand geben, indem sie diese zur Anschauung bringen (anders als die Philosophie, die sie auf den Begriff bringt). Und es braucht gleichermassen MedienautorInnen, die - weil sie sich ein Studium lang an individuellen und gesellschaftlichen Themen und am Eigensinn eines oder mehrerer Medien abgearbeitet haben - als FilmerInnen besseres Fernsehen zu machen befähigt sind, als wir es täglich zu sehen bekommen, die als FotografInnen in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, in der Werbung ihr Medium auf neue Art einzusetzen in der Lage sind oder die als Neue-Medien-SpezialistInnen andere Spielkulturen als die herkömmlichen Shooter-Games, oder in ihrem Potential noch wenig ausgereizte maschinische Plattformen zu erproben und zu realisieren vermögen.

These IX
Der Studiengang Medien & Kunst mit seinen vier Vertiefungsrichtungen Bildende Kunst, Fotografie, Neue Medien und Theorie – Studien zur Medien-, Kunst- und Designpraxis bietet mit seinem pointierten Profil, das auf drei Säulen ruht
a) Ausbildung zur individuellen und/oder kollaborativen Autorschaft
b ) Arbeit am und mit dem Eigensinn von Medien / der Medialität
c) Kunst als Methode
erstens eine solche Kunstausbildung auf der Höhe der heutigen Zeit und der heutigen gesellschaftlichen Anforderungen an .

These X
Zweitens ist er damit international, wie uns von vielen ausländischen KollegInnen bestätigt wird, ziemlich einzigartig. Ziemlich einzigartig, weil Transdiziplinarität und Transmedialität in einem einzigen Studiengang vereinigt sind und bereits den Studierenden auf Bachelor-Stufe ein Studium ermöglicht, das die Quadratur des heutigen curricularen Kreises schafft: Ein weitgehend individuelles und selbstbestimmtes Studium anzubieten, das Tiefe, Breite und Vielfalt zugleich ermöglicht. (Profil und Konzept sind zu finden auf der Homepage des Studiengangs Medien & Kunst: dmk.hgkz.ch).

* Erstveröffentlichungung unter dem gleichen Titel in: <Jahrbuch Departement Medien & Kunst der HGK Zürich>. Bd 1: Bekanntmachung - 20 Jahre Strudiengang Bildende Kunst. Hrsg. von der Kunsthalle Zürich und DMK / Studienbereich Bildende Kunst. Zürich:  JP Ringier 2006.