Giaco Schiesser
Gefesselte Lust auf Leben
Alltagsrassismen - Sorge um sich - citoyenneté
Alle Künste tragen bei zur grössten aller Künste, der Lebenskunst
Bertolt Brecht
Worüber ich, auf den ersten Blick überraschend, in einer Reihe
mit dem Titel <Subjekte, Stars und Trips - Subjektpositionen in den
Künsten>, sprechen möchte, ist die Problematik des "Alltagsrassismus"
oder genauer, der Alltagsrassismen. Nur auf den ersten Blick überraschend
ist dies, weil es in den Alltagsrassismen um eine - wie zu zeigen sein wird:
gefesselte - Form der "Lebenskunst" geht. Was mich an den Alltagsrassismen
interessiert, deren Beachtung sowohl in der politischen Alltagsarbeit wie
in der theoretischen Praxis nach wie vor in einem krassen Missverhältnis
zu ihrer gesellschaftlichen Bedeutung steht, ist der Zusammenhang zwischen
Bedürfnis-Begehren, Selbstentwurf und Fremdenfeindlichkeit. Zur Aufhellung
dieses Zusammenhangs erweist sich eine kritische Rekonzeptionalisierung
des Foucaultschen Konzeptes der "Sorge um sich" (Foucault 1986)
als äusserst fruchtbar, die auch eine gefesselte Sorge um sich beinhaltet
- die bei Foucault nicht mitbedacht ist, Sorge um sich ist für Foucault
per se eine widerständige, sich selbst permanent neu erfindende individuelle
Praxis - und die es zu ent-fesseln gilt.
Von der biologischen Zugehörigkeit zur Pflicht auf Differenz
Da antirassistische Arbeit ohne möglichst genaues Begreifen der Phänomene,
gegen die sie wirksam werden will, ein "hilfloser Antirassismus"
bleibt, oder, um es mit einem schönen Satz von Ziffel, dem Physiker
in Brechts "Flüchtlingsgesprächen" zu sagen, "Begriffe
sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann", will ich mit
ein paar Begriffsdefinitionen beginnen. Heute gibt es eine Vielzahl unterschiedlich
weiter, enger und sich teilweise widersprechender Definitionen von Rassismus,
die sich wechselseitig zu neutralisieren drohen. Das Kriterium für
meine Bestimmung des Rassismus-Begriffs ist - in der Perspektive politischer
Handlungsbefähigung - dessen analytische Trennschärfe in Verbindung
mit seiner praktischen Angemessenheit. Von daher scheint es mir sinnvoll,
die Definition des britischen Soziologen und Rassismusforschers Robert Miles
aus dessen lesenswerter Einführung in die Geschichte und Theorie des
Rassismus (Miles 1991) zu übernehmen. Miles schlägt vor, dann
von Rassismus zu sprechen, wenn zwei Bedingungen zutreffen:
- Es muss eine Rassenkonstruktion stattfinden: Im Rassismus werden reale
oder vermeintlich körperliche Merkmale (wie die Hautfarbe) oder kulturelle
Merkmale (wie Sprache, Kleidung oder Bildung) mit bestimmten (Charakter-)Eigenschaften
(einer Gruppe) von Menschen verknüpft und dann als natürliche
Resultate von Abstammung ausgegeben. Das heisst: Im Rassismus werden - durch
Ein- und Ausschliessungsverfahren - gesellschaftlich hergestellte Verhältnisse
homogenisiert und naturalisiert.
- Die so als homogen konstituierte fremde Gruppe muss als minderwertig beschrieben
werden, und/oder die fremde Gruppe wird als Verursacherin von negativen
Folgen, als Bedrohung für die eigene Gruppe angesehen.
Der biologische und der kulturelle Rassismus unterscheiden sich - "auf
den ersten Blick" (Balibar) - hauptsächlich in zwei Punkten. Erstens
rekurriert der kulturelle Rassismus nicht mehr auf die Biologie, sondern
auf unterschiedliche Kulturen. Der kulturelle Rassimus ist, in der Formulierung
des französischen Philosophen und Rassismusforschers Etienne Balibar,
ein "Rassismus ohne Rassen". Und zweitens postuliert der kulturelle
Rassimus nicht länger die Überlegenheit (Superiorität) der
einen (weissen) über alle anderen Rassen bzw. Kulturen, sondern deren
Gleichwertigkeit. Die zentralen Argumentationsfiguren des kulturellen Rassismus
heissen "Homogenität" und "Unaufhebbarkeit". Betont
werden die "Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen"
der einzelnen Kulturen, sowie die "Schädlichkeit jeglicher Grenzverwischung"
zwischen ihnen. Im kulturellen Rassismus tritt an die Stelle der naturalisierten
Überlegenheit und der naturalisierten Rassen des biologischen Rassismus
eine Naturalisierung der homogen konstruierten Kultur und, implizit, des
ebenso homogen kontruierten Individuums.
Zu dieser Unterscheidung sind zwei Bemerkungen nicht ganz unnütz. Erstens
lassen sich "biologischer" bzw. "genetischer Rassismus"
einerseits, "kultureller Rassismus" - "Neo-Rassismus",
"differentieller" oder "differentialistischer" Rassismus,
wie er auch genannt wird - andererseits analytisch zwar unterscheiden. Empirisch
können sie jedoch einzeln oder amalgamiert auftreten. Und, biologischer
und kultureller Rassismus folgen historisch nicht einfach aufeinander, wie
oft angenommen wird. So ist einer der ältesten Rassismen, der Antisemitismus,
seit jeher vor allem ein kultureller Rassismus. Zweitens, obwohl die Rassentheorie
von namhaften Unesco-Kommissionen (denen u. a. der Anthropologe Claude Lévy-Strauss
und der Nationalökonom Gunnar Myrdal angehörten) in den fünfziger
und sechziger Jahren als wissenschaftlich unhaltbar nachgewiesen wurde,
ist der biologische Rassismus im Alltags(un)bewusstsein, im kollektiven
Gedächtnis der EuropäerInnen, noch immer tief verankert.
Das zentrale politische Problem der Neuen Rechten, welche "die in Europa
heute tendenziell vorhandene rassistische Politik" (Balibar) konzipieren
und organisieren, ist auf der einen Seite: einen Euro-Rassismus oder eine
Euronationalismus aufbauen zu wollen bzw. zu müssen (Stichwort: weltweit
weiter wachsende Migration, bedrohter Reichtum der ersten Welt), und auf
der anderen Seite: den seit rund zweihundert Jahren propagierten und in
den Herzen, Köpfen und Körpern der Menschen tief verankerten nationalen
Rassismen Rechnung zu tragen. Wie sieht die Lösung dieses Problems
aus? Die Neuen Rechten lösen das Problem ganz wesentlich mit der Aneignung
eines zentralen Elements, der den linken Anti-Rassismusdiskurs von der Nachkriegszeit
bis zu den siebziger Jahren geprägt hat. Sie übernehmen von diesem
das "Recht auf Differenz", das sie zur "Pflicht auf Differenz"
umformulieren. Dieser vom "Recht auf Differenz" zur "Pflicht
auf Differenz" umgebaute Diskurs heisst die Menschen, so zu bleiben
wie sie waren, und da zu bleiben, wo sie herkommen. In der umfassend ausgearbeiteten
Perspektive einer "Kulturrevolution", also einer neuen Lebenskunst
bzw. einer "kulturellen Hegemonie" von rechts- einem Konzept,
das sie sich über eine Rezeption des marxistischen Theoretikers Antonio
Gramsci angeeignet hat - versucht die Neue Rechte, den Multikulturalismus
von rechts zu besetzen.
Alltagsrassismus und Demokratie
Ich sehe aufgrund der vorliegenden Literatur zum Rassismus und der Erfahrungen
unterschiedlicher antirassistischer Gruppen fünf unabweisbare Einsichten,
von denen die Konzipierung antirassistischer Strategien heute auszugehen
hätte, will sie sich nicht in dauernd hinterherhechelndem Aktionismus
totlaufen oder in totaler Frustration erschöpfen.
· Die Einsicht- wider allen Augenschein - dass zwischen Arbeitslosigkeit
und Rassismus nicht ein Ursache-Wirkungsverhältnis besteht - was nicht
bedeutet, dass Wirtschaftskrisen keine Verstärkereffekte für rassistisches
Denken und Fühlen haben (diese Effekte haben sie zweifellos). Gäbe
es diesen ursächlichen Zusammenhang, liesse sich beispielsweise nicht
erklären wieso die "Nationaldemokratische Partei" (NPD) in
der Bundesrepublik und - in einem noch ausgeprägteren Ausmass - die
"Nationale Aktion" in der Schweiz in der Hochkonjunktur der sechziger
und anfangs siebziger Jahre ihre grössten Erfolge feierten. Rassismus
ist im Kapitalismus vielmehr, wie unter anderen die englischen Soziologen
Miles und Stuart Hall (1989) sowie Etienne Balibar gezeigt haben, ein "struktureller
Rassismus".
Das heisst, Rassismus ist ein dem Kapitalismus inhärentes Problem.
Es ist an dieser Stelle vielleicht hilfreich, darauf hinzuweisen, dass erst
seit dem 18. Jahrhundert und einzig im kapitalistischen Europa und in den
USA die Menschheit in "Rassen" eingeteilt wurde bzw. wird.
· Die Einsicht, dass das Problem nicht "die AusländerInnen",
sondern die "Einheimischen" oder "InländerInnen"
sind. Das heisst unter anderem, dass AntirassistInnen jeglicher couleur
sich von der Vorstellung verabschieden müssen, dass ein manchmal tumbes
und oft verführtes Volk eine "andere", leider rassismusanfällige
Gruppe von Menschen darstellt, eine Gruppe, der man qua hehrer antirassistischer
Gesinnung nicht zugehört. Struktureller Rassismus bedeutet auch, dass
der Rassismus mitten durch Individuen und durch Gruppen - auch antirassistische
- hindurchlaufen kann.
· Der zweifellos süffige, aber verharmlosende Begriff der "multikulturellen
Gesellschaft" sollte aufgegeben werden. Die multikulturelle Strategie
"Begegnung der Vielfalt der verschiedenen Kulturen" bewegt sich
innerhalb des Dispositivs der Neuen Rechten: Gerade indem sie die Bewahrung
"kultureller Identitäten" betont, stellt sie die Differenz
zwischen der 'eigenen' und der 'fremden' Kultur immer wieder neu heraus
und zementiert sie so. Zudem entnennt der Begriff "multikulturelle
Gesellschaft" nicht nur die Tatsache, dass auch die sogenannt einheimische
Kultur nichts Homogenes ist - wie das z. B. der für die schweizerische
Rassismusdiskussion einflussreiche Zürcher Soziologe Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny
unterstellt -, den SchweizerInnen ist das mit dem Ergebnis der EWR-Abstimmung
vom Dezember geradezu schockartig vor Augen geführt worden. Er bringt
auch zum Verschwinden, dass die Kulturen nicht gleichberechtigt koexistieren,
sondern dass Herrschaftsverhältnisse zwischen ihnen bestehen. So existiert,
um nur auf ein signifikantes Beispiel hinzuweisen, eine "Ethnisierung
der Weltarbeitskraft" (Wallerstein), die konstitutiv ist für die
internationale wie nationale Arbeitsteilung. Das Lohnsystem z. B. ist nicht
nur in Grossbritannien, den USA oder der BRD, sondern auch in der Schweiz
nach "Ethnien" oder "Rassen" gespalten. Vielleicht ist
es sinnvoll, wie das die Hamburger Rassismusforscherin Nora Räthzel
vorgeschlagen hat, statt von multikultureller Gesellschaft von "Einwanderungsgesellschaft"
zu sprechen. Dieser Begriff hat zumindest den Vorteil, dass er keine falschen,
homogenisierten "kulturellen Identitäten" unterstellt, dass
er die Herrschaftsverhältnisse in allen europäischen Gesellschaften
entlang ethnischer Zuordnungen bewusst hält.
· Die Einsicht, dass - wenn es im Kapitalismus einen strukturellen
Rassismus gibt - Antirassismus ein notwendiger Bestandteil jedes emanzipatorischen
oder Demokratie-Projektes werden muss und nicht einfach als Aufgabe an gewissermassen
"spezialisierte" Antirassismus-Gruppierungen delegiert werden
kann.
· Die Einsicht, dass es nicht die Strategie gegen den Rassismus gibt
- schon deswegen nicht, weil es verschiedene Rassismen gibt.
Gegen Pogrome, Brand- und Mordanschläge z.B. muss der Einsatz der entsprechenden
repressiven Staatsapparate (Polizeischutz, Strafverfolgung aufgrund der
bestehenden Gesetze) gefordert werden, weil der unmittelbare Schutz der
AsylberwerberInnen und EinwanderInnen Priorität hat. Denn gegen den
Alltags- oder den "impliziten Rassismus", auf dem die Erfolge
der Neuen Rechten ganz wesentlich aufbauen, ist allerdings mit den repressiven
Staatsapparaten nicht auszukommen - das zeigen die Erfahrungen in allen
europäischen Ländern, auch in der Schweiz.
Diese "fünf Grund-Einsichten für antirassistische Arbeit",
wie ich sie nennen möchte, führen zu meiner zentralen These:
Ins Zentrum antirassistischen Nachdenkens muss endlich der Alltagsrassimus
oder besser: müssen die Alltagsrassismen rücken. Ohne Begreifen
der unterschiedlichen Formen von Alltagsrassismen wird es nicht nur keine
erfolgreichen antirassistischen Strategien, sondern auch keine Perspektive
der Demokratie geben.
Alltagsrassismus als gefesselte "Sorge um sich"
Die Frage, die an den Anfang einer Diskussion um Strategien gegen den impliziten
oder Alltags-Rassismus stehen muss und von linker, grüner, feministischer
und christlicher Seite - angesichts der rechtsextremistischen Taten mit
der Situation konfrontiert, unmittelbar handeln zu müssen oder zu wollen
- meist nicht gestellt oder verdrängt wird, heisst: Welche Funktionen
erfüllt der meist "implizite" Rassismus im und für den
Alltag, für die tägliche (Ðber-)Lebenskunst der Menschen?
Der Frankfurter Soziologe Detlev Claussen z. B. sieht im Rassismus eine
"moderne Alltagsreligion", einen unbewussten Akt der einzelnen,
sich gegen die Unübersichtlichkeit in der heutigen "modernen"
Gesellschaft zu wehren. Diese moderne Gesellschaft lässt sich präziser
als eine Gesellschaft beschreiben, die permanent, und zur Zeit besonders
radikal, ihre Individuen umbaut, und sich heute an der Schwelle vom arbeitsteilig-maschinellen,
auf Massenproduktion und -konsum gerichteten Fordismus zum elektronisch-automatischen,
auf individuelle Bedürfnisse orientierten High-Tech-Kapitalismus befindet.
Die Ungleichzeitigkeit zwischen immer schneller sich verändernden gesellschaftlichen
Realitäten und ihrer individuellen Verarbeitung produziert beim Einzelnen
das Gefühl von Ohnmacht. Daraus erwächst ein Bedürfnis nach
dem Vertrauten, nach Kontinuität und Homogenität, dem als Bedrohung
ein undefiniertes, diffuses Fremdes, das mit dem Mobilen assoziiert wird,
gegenüber steht. Der in der Informationsgesellschaft bzw. im High-Tech-Kapitalismus
erforderlich beziehungsweise möglich gewordenen multiplen oder "hybriden
Identität" (vgl. dazu Hall 1998) wird das homogenisierte individuelle
und gesellschaftliche Subjekt - das In-dividuum und die einheitliche Nation
- gegnübergestellt und gelebt.
Woher kommt diese Bedrohung und wie wirkt sie sich aus? Im Alltag verarbeiten
wir Erfahrungen meist nach Verhaltensmustern, die sich danach orientieren,
was sich bewährt hat und was nicht. Die Verarbeitung der Realität
in Vor-Urteilen sind Abbreviationen, verkürzte Formen gesellschaftlicher
Erfahrung, die zur Selbsterhaltung durchaus notwendig sind. Die Attraktivität
der Verfestigung solcher Vorurteile besteht nun darin, dass sie, so Claussen,
"Lösungsmöglichkeiten anbieten, wie wir diese komplizierten
Situationen", in die wir in unserer Gesellschaft geraten, "ohne
nachzudenken, verarbeiten können". Marx nannte diese spontanen
Verarbeitungsformen einprägsam die "gang und gäben Denkformen".
Wie kann dieser Bedrohung abgeholfen werden? Die Abhilfe der Bedrohung -
der Fremden - wird eingeklagt von einer Autorität: der Staatsgewalt.
Der Staat soll das heute drängende und morgen noch wachsende Problem
der vielfältigen Ungewissheiten in unserer Gesellschaft lösen.
Für die Arbeitsplätze z. B. heisst das: Durch die staatliche Regelung
des Zustroms von Fremden soll die Sicherheit der eigenen Arbeitszukunft
hergestellt werden. Der Staat wird hier angerufen als quasi natürlicher
Vertreter einer Gruppe, die einen Anspruch formuliert, von diesem Staat,
gegen eine andere Gruppe, vertreten zu werden.
Zusammenfassend könnte man sagen: Die ohnmächtigen Einzelnen -
im ganz buchstäblichen Sinne: diejenigen "ohne Macht" - beteiligen
sich aktiv am eigenen Verschwinden in einem Bermudadreieck gebildet aus
den Seiten Ohnmachtsgefühle, Realitätsverarbeitung in Vor-Urteilen
und Anrufung des Staates. Oder allgemeiner und in einer etwas anderen Terminologie
ausgedrückt: Rassismus ist eine Form "ideologischer Vergesellschaftung"
(vgl. dazu Projekt Ideologie-Theorie), das heisst, eine Art und Weise, wie
sich die Individuen die Welt erklären und sich aktiv handelnd in die
bestehende staatliche Ordnung einfügen - bei gleichzeitiger Abgabe
eigener Kompetenzen und der Verschiebung und Verdrängung eigener Bedürfnisse.
Das, was im ganz alltäglichen Rassismus gelebt wird, lässt sich
so als entfremdeter Protest gegen Entfremdung oder, genauer, als "rebellierende
Selbstunterwerfung" begreifen (zum Begriff der "subjection",
der im französischen das im deutschen Begriff "Subjekt" ungedachte,
widersprüchliche Verhältnis von gleichzeitiger Subjektwerdung
im Sinne von selbständig handelndem Subjekt und von Unterwerfung, das
Zum-Untertan-Werden, zusammendenkt, vgl. Althusser). Dieser Befund wird
eindrücklich untermauert durch empirische Foschungen, die in den letzten
Jahren gemacht worden sind (vgl. z.B. Leiprecht und seine Untersuchungen
zu Jugendlichen). Das folgende Beispiel verdeutlicht, was damit gemeint
ist.
Ausgangspunkt ist ein Ausschnitt aus einem Leserbrief: "Die Türken
lümmeln sich in unseren Parklandschaften, wo früher kein Schweizer
den Rasen betreten durfte." In diesem Beispiel liegt die Unterwerfung
unter die staatliche Ordnung unmittelbar auf der Hand. Doch lässt sich
in dieser auf den ersten Blick glatten Unterordnung ein Element von Widerspruch
erkennen: Unsere Parklandschaften, die früher kein Schweizer betreten
durfte. Im besitzanzeigenden und homogenisierenden 'unser' positioniert
sich das Individuum als bestimmendes, über die Landschaft entscheidendes
Subjekt; im distanzierten 'kein Schweizer' werden einmal die anderen als
Nicht-Schweizer definiert, aber gleichzeitig wird benannt, dass andere das
Verbot ausgesprochen haben, dem der/die Sprechende sich unterworfen hat.
Es waren offensichtlich nicht wir, die entschieden, dass niemand unseren
Park betreten sollte. In ver-rückter Weise wird so gegen die eigene
Unterwerfung opponiert, indem andere aufgefordert werden, sich ebenfalls
zu unterwerfen. Die Parklandschaft wird gegenüber dem Fremden als Eigentum
reklamiert, aber zugleich im Verhältnis zur eigenen Person als fremd
ausgesprochen. Widersprüchlich ist aber nicht nur der zweite, sondern
auch der erste Teil des Satzes: Sie lümmeln sich in unseren Parklandschaften.
Der Genuss wird als schlechte Tat, als Unmoral ausgesprochen und damit in
ein Wertesystem übersetzt. Das weist auf eine angestrengte Arbeit an
der eigenen Bedürfnisstruktur hin: Die Lust an der Natur wird transformiert
in die Lust an der Ordnung, am Einhalten der Ordnung. Die widersprüchliche
Abwehr zeigt jedoch, dass die Transformationen nie ganz gelingen. Es findet
ein ständiger Kampf statt zwischen den geforderten und den gewünschten
möglichen, nicht gelebten Verhaltensweisen. Das ungelebte, für
unmöglich gehaltene Leben wird von den 'Fremden' gelebt und erscheint
somit als möglich.
"Die Wiederkehr des Verdrängten" - Ansatzpunkt einer entfesselnden
Politik
Was ist aus dem Begreifen dessen, was im alltäglichen Rassismus vor
sich geht, für antirassistische Arbeit zu lernen?
Langfristige Versuche, Rassismus zu bekämpfen, so meine These, müssen
am Interesse der Leute, sich die Welt zu erklären und ihrem Leben einen
Sinn zu geben, ansetzen. An dem, was der französische Philosoph Etienne
Balibar einmal als popularen "'Willen zum Wissen', d. h. als heftiges
Begehren nach Erkenntnis, nach einer unmittelbaren Einsicht in die gesellschaftlichen
Verhältnisse", der britische Rassismusforscher Phil Cohen als
"Wiederkehr des Verdrängten" und der Doyen der britischen
Cultural Studies, Stuart Hall (als eine Form des "unaussprechlichen
Begehrens" (Hall 1989) umschrieben haben, und was rassistisch ausgelebt
wird. Es geht darum, dieses gefesselte "heftige Begehren nach unmittelbarer
Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse", diesen gefesselten,
mit Foucault gesprochen: Willen zur Sorge um sich, zu einer eigenen Lebenskunst,
nicht als 'falsches Bewusstsein' oder noch einfacher als Dummheit der Menschen
zu denunzieren, wie das viele AntirassistInnen noch immer tun, sondern darum,
es als gefesselte Formen von Welterklärung und Bedürfnisbefriedigung,
als "selbstschädigende Momente" einer auf "Verfügung
und Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen" (Holzkamp) zielenden
Lebensweise zu begreifen, an die gerade angesetzt werden muss.
Weil aber das, was unbewusst eingeklagt wird - das Bedürfnis nach gesellschaftlicher
Handlungsfähigkeit, der Wunsch nach Bestimmung über das eigene
Leben -, zugleich ein, wenn nicht das Lebenselixier der Demokratie ist,
ist es unerlässlich, antirassistische Arbeit als ein Moment in einem
- erneuerten - Demokratie-Projekt zu verankern. Erst dadurch gewinnt der
Antirassismus einen Horizont, und bleibt nicht länger - als in seiner
Haltung des "Anti" defensiv und letzlich perspektivenlos - an
den Gegenstand seiner Kritik gekettet.
citoyenneté als Kunst einer demokratischen Welt-Innenpolitik
In der post-kolonialen und post-Kalten-Krieg-Welt wirft die Frage nach der
Demokratie eine Reihe neuartiger Problemen und Widersprüche auf, von
deren Lösung wir noch weit entfernt sind. Die nationalstaatlich organisierten,
westlichen Demokratien durchlaufen dabei eine tiefe Krise, aus der die Demokratie
nur transformiert oder überhaupt nicht hervorgehen wird. Betrachten
wir die Europäische Union, so gibt es heute einen qualitativ neuen,
"europäischen" Rassismus, weil die EU eine neue, weitreichende
Diskriminierung festschreibt: für jedes EU-Mitglied sind zwei Kategorien
von AusländerInnen mit ungleichen Rechten definiert: Diejenigen, die
zur Gemeinschaft gehören und diejenigen ausserhalb der Gemeinschaft.
Wie gehen die westeuropäischen Nationalstaaten heute mit der Migration
um? Der grundlegende Widerspruch ihrer Politik besteht darin, dass sie das
internationale Migrationsproblem in eine nationale oder vielmehr in eine
nationalisierende Asyldebatte verwandelt haben, um sie als nationale Innen-
bzw. Aussenpolitik handhabbar zu machen. "Die Migration", beschreibt
der Berliner Soziologe Uli Jähner diesen Prozess, "aktualisiert
die globalen Probleme inmitten Europas mit der unhintergehbaren Folge, dass
die Migration die Selbstrechtfertigung und Selbstbegründungsmuster
der reichen westlichen Demokratien umstandslos einer globalisierenden, und
das heisst: universalisierenden Perspektive aussetzt und damit ihre Begründungsschwäche
in einer neuen Konstellation offenbart. (...) Der die Migrationsprobleme
verkennende Streit um Multikultur ersetzt den wirklich (welt-) politischen
Prinzipienstreit, den das Asylproblem als wirkliches Problem weltweiter
Herrschaft und Gewalt bereithält. Es erfordert - entgegen der Verfehlung
neuer Weltpolitik durch eine nationalstaatliche Aussenpolitik, die selber
wiederum auf Innenpolitik regrediert - "eine weltgesellschaftliche
Begründung der Demokratie". Zu dieser "weltgesellschaftlichen
Begründung von Demokratie" gehören in erster Linie neue Welt-Wirtschafts-,
Oekologie- und Geschlechterpolitiken, die Neubestimmung von internationalen
Sanktionsmächten (UNO, OSZE) sowie die Einrichtung der citoyenneté.
Ich will hier einzig auf das radikaldemokratische Potential und die Herausforderung
der citoyenneté eingehen, die mit "Staatsbürgerschaft" falsch,
mit "AusländerInnenwahlrecht" eingeschränkt und mit
dem von den deutschen Grünen benutzten Konzept des "Niederlassungsrechts"
nur ungenügend aufgegriffen worden ist. In der ersten Verfassung der
französischen Revolution von 1793 wurde noch explizit getrennt gedacht,
was für die meisten von uns identisch ist: nationale bzw. ethnische
Zugehörigkeit und Staatsangehörigkeit. So erhielten einige Ausländer,
die sich an der Französischen Revolution beteiligt hatten, die französischen
Bürgerrechte: Marat z.B. war Schweizer, Thomas Paine, Mitglied der
Verfassungsgebenden Versammlung von 1793, Engländer. Die, nie in Kraft
gesetzte, Verfassung von 1793 versprach all denen citoyenneté, die im Sinne
der Verfassung "staatsbürgerlich" gehandelt hatten - die
sich also um sich und andere gesorgt hatten -, sah also von irgendwelchen
ethnischen oder nationalen Zugehörigkeiten ab. In Frankreich z.B. wurde
erst mit der Volkszählung von 1851 die Frage gestellt, ob ein Einwohner,
eine Einwohnerin Franzose/Französin oder AusländerIn war. Und
in der Schweiz wäre der Schriftsteller und Wortführer des Liberalismus,
Heinrich Zschokke, nach heutiger Definition ein Deutscher gewesen (er wurde
in Magdeburg geboren), damals war er ein Aargauer, weil jeder, der auf dem
Territorium des Kanton Aargau wohnte, ein Aargauer war.
Die Einführung einer Verfassung auf der Basis einer nichtethnischen
citoyenneté ist gegenwärtig besonders aktuell, ist doch die Loslösung
der BürgerInnenrechte von der heutigen Staatsangehörigkeit in
der EU seit dem Inkrafttreten der Maastrichter Verträgen der Fall.
Positiv daran ist, dass die Menschen unabhängig von ihrer nationalen
Zugehörigkeit an ihrem jeweiligen Wohnort die gleichen Rechte wie die
jeweiligen Staatsbürgerinnen erhalten (kommunales Wahlrecht), dass
also eine multiple, hybride Wohnbevölkerung und hybride, stets widersprüchlich
zusammengesetzte Individuen als Realität anerkannt wird. Negativ ist,
dass eine neue Diskriminierung - zwischen allen EUlerInnen und den Nicht-EUlerInnen,
die irgendwo in Europa arbeiten und leben - eingeführt wird. Diese
neue Diskriminierungformen enthalten neben ihrer sozialen eine enorme politische
Sprengkraft. Seit dem 1. Januar 1995 ist nämlich Realität, dass
z.B. der neu zugezogene deutsche Rechtsanwalt in Marseille, Genua oder Barcelona
zu den Bürgermeisterwahlen und zu den Wahlen für die lokalen Parlamente
antreten kann, während der gebürtige Algerier und die gebürtige
Schweizerin, die seit über 20 Jahren dort leben, arbeiten und Steuern
zahlen, politisch weiterhin Untermenschen bleiben werden.
Der Kampf um gemeinsame BürgerInnenrechte, die weit über das Ausländerinnenwahlrecht
hinausgehen, ist eine der zentralen Möglichkeiten, an die ein neues,"strukturveränderndes"
demokratisches Projekt, das Antirassismus als einen Bestandteil enthält,
anknüpfen kann, sind doch von diskriminierenden Ein- und Ausschliessungsmechansimen
nicht alleine Teile der sogenannten "AusländerInnen", sondern
z.B. auch inländische Frauen und einheimische ArbeiterInnen betroffen.
Was es heute theoretisch auszuarbeiten und politisch umzusetzen gilt, ist
ein neues Demokratie-Konzept, das in der Perspektive eines neuen Gesellschaftsvertrags,
der auf einen Welt-Gesellschaftsvertrag hin entworfen ist, angelegt sein
muss; ein Demokratie-Projekt, das Beziehungen und Bündnisse zu entwickeln
sucht, die nicht auf Gleichheit im Sinne von Identisch-Sein der Akteure
und Akteurinnen mit sich und mit anderen setzt, sondern auf Vernetzung,
-bewusster Koalition, Affinitäten und politischen Verwandschaften"
(Haraway) im Sinne von begrenzt gleichen Interessen an der Entwicklung kollektiver
Handlungsfähigkeit. Heute ist Politik in den westlichen Demokratien
nicht mehr nur lokale, regionale oder nationale Innen- und Aussenpolitik,
sondern alle diese Politiken sind stets zugleich auch Weltinnenpolitik.
Die Beispiele Ökologie und Ökonomie zeigen das seit längerem
sinnfällig. Und nur bewusst als Weltinnenpolitik gestaltete Politiken,
und damit schliesst sich der Kreis, haben ein tatsächliches Interesse
daran, die Ursachen der Migration in den Blick zu bekommen und sie zu beseitigen.
citoyenneté als "Ästhetik der Existenz"
Das grundlegende Dilemma, vor das sich politisches Handeln heute gestellt
sieht, ist, "dass es immer weniger möglich ist, Demokratie und
Menschenrechte im nationalstaatlichen Rahmen zu sichern und auszubauen und
dass unter den herrschenden kapitalistischen Bedingungen doch gleichzeitig
zunächst kein anderes politisch-institutionelles Terrain vorhanden
ist, innerhalb dessen sich der Kampf darum erfolgreich entwickeln könnte"
(Hirsch). Angesichts dieses Dilemmas ist eine Politik der citoyenneté -
als Politik von individuellen und gesellschaftlichen -Subjekten" (im
Sinne Foucaults) im Rahmen des Nationalstaates, aber über diesen hinauszielend
- zwar nur ein kleiner Beitrag der europäischen Länder, aber sie
ist ein grosser Schritt in Richtung eines neuen Demokratie-Verständnisses,
das Ernst macht mit der Tatsache, dass die Welt längst ein globales
Gemeinwesen geworden ist. Worum es heute geht, ist das Ringen um einen neuen,
zivilgesellschaftlichen Universalismus für eine "planetarische
Gemeinschaft" (Richard Rorty) - und die ist nur vorstellbar als das
unabschliessbare Projekt einer radikalen und pluralen Demokratie. In einem
solchen Demokratieprojekt , das die Mikro- und Makrophysik von Individual-,
Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnissen ernst nimmt und das ernst
macht mit einer Lebenskunst der "Selbstsorge" (Foucault 1984),
einer "Ästhetik der Existenz" (Foucault 1997) der die Sorge
um die anderen inhärent ist - und die nicht zum Rückzug, sondern
zu einer "Intensivierung gesellschaftlicher Verhältnisse"
führt - geht es, radikal und unabschliessbar, um Selbsterfindung statt
Selbstverwirklichung, um Entwerfung statt Unterwerfung, um die Ent-Fesselung
multipler und hybrider, selbstbestimmter Existenzformen, statt um - wie
auch immer rebellierender - Selbstunterwerfungen unter bestehende Herrschaftsstrukturen.
Kurz: es geht um eine Lebenskunst, die vielgestaltige statt ein-fältige
Selbstentwürfe ermöglicht und erfordert, die von den Individuen
selbst kreiert werden müssen.
Bibliographie
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Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. 2. Aufl. Leer. 1990.
Foucault, Michel: Freiheit und Selbstsorge. o.O. 1984.
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Frankfurt 1986.
Foucault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio
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Hall, Stuart: Rassismus als ideologischer Diskurs: In: Das Argument Nr.
178-1989.
Hall. Stuart: Kritische Kulturwissenschaften. Ausgewählte Schriften.
Bd. 3. Hamburg 1998.
Haraway, Donna: Ein Manifest für Cyborgs. In: D.H.: Die Neuerfindung
der Natur. Primaten, Cyborgs und und Frauen. Frankfurt 1995.
Hirsch, Joachim: Vom fordistischen Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat.
In: Das Argument Nr. 204-1994.
Holzkamp, Klaus: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt 1983.
Jähner, Ulrich: Migration - Asyl -Ausländerfeindlichkeit. In:
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Leiprecht, Rudolf et al.: Rassismus und Jugendarbeit. Duisburg 1992.
Miles, Robert: Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie
eines Begriffs. Hamburg 1991.
Projekt Ideologie-Teorie: Theorien über Ideologie. Berlin 1979.
Wallerstein, Immanuel: Der historische Kapitalismus. Berlin 1984.
Giaco Schiesser,1998