Das Paradies liegt westwärts!
9 Thesen zur Version 8.0. der besten aller Welten (1998)

Von "Giaco Schiesser"1

I

An der Westküste der USA erreichte das Projekt der Moderne seine äusserste Grenze - geographisch, ökonomisch, philosophisch.
Überquert man von Kalifornien aus den Pazifik, kommt man vom Westen in den Osten. Nach dem Ende des Trecks gen Westen als geopolitscher Bewegung machten sich die Nachfahren der Pioniere auf, die vitale Energie der Entdecker des dem weissen Mannes unbekannten Landes in einen anderen Raum zu transformieren: Wo Planwagen, Auto und Raumfähren stecken blieben oder abstürzten, wechselten Geist und Kapital das Gefährt und fuhren einfach in einem neuen, unentdeckten Land weiter: Im Cyberspace2. Verlustpunkte kommen dabei in der Buchhaltung der Bewusstseinserweiterer, Erfinder und Macher dieses "Wachstumsmotors des 21. Jahrhunderts" keine vor. In dieser neuesten Version der besten aller Welten - von Bill Gates liebevoll "Kapitalismus ohne jegliche Reibungsverluste" genannt - machen alle nur Gewinne.

II

Der Cyberspace ist eine kalifornische Ideologie.
Am 15. Mai 1969 gab der kalifornische Gouverneur Ronald Reagan bewaffneten Polizeieinheiten den Befehl, bei Tagesanbruch gegen protestierende Hippies vorzugehen, die den People's Park in der Nähe des Campus der University of California in San Francisco besetzt hielten. Fazit des Polizeieinsatzes: 1 Toter, 128 Hospitalisierte. An diesem Tag standen sich das ordentliche Amerika der White Anglo-Saxon Protestants und seine Gegenkultur, die Hippies, Rocker und Studenten, in unversöhnlicher Weise gegenüber. Knapp dreissig Jahre später haben die Konvergenz der Medien, der Telekommunikation und der Computer zum Hypermedium Cyperspace in den USA zu einem losen Bündnis von Autoren, Hackern, Kapitalisten und Künstlern geführt, von denen einige 1995 eine "Magna Charta für das Zeitalter des Wissens"3 verfasst haben. Dieses Dokument für das digitale Zeitalter bringt das, was man die "kalifornische Ideologie" nennt, auf den Punkt. Ermöglicht wurde die Verschmelzung der Gegensätze zwischen dem ekstatisch-entrückten Geist der Hippies und dem nüchtern-geldheckenden Aktionismus der Yuppies durch einen gemeinsamen, tiefreichenden Glauben an das emanzipatorische Ideal der neuen Technologien. Im digitalen Utopia wird jeder gut drauf und erst noch reich sein: Der nüchtern arbeitende, lokal bornierte homo faber der fordistischen Gesellschaft mutiert zum homo ludens globi, dem allzeit vergnüglich spielenden, global vernetzten netizen der CyberModerne4 oder des "Postinformationszeitalters" (Nicolas Negroponte).
Die kalifornische Ideologie ruht auf drei Pfeilern: dem grenzenlosen Glauben an den technologischen Determinismus, an den wirtschaftsliberalen Individualismus und an eine militante Antistaatlichkeit. In der kalifornischen Ideologie sind der Glaube an die elektronische Agora und der Glaube an den elektronischen Marktplatz unauflöslich ineinander verschränkt. Die Widersprüchlichkeiten dieser heterogenen Orthodoxie sind allerdings bei näherem Hinsehen eklatant. So nistet schon im ursprünglichen amerikanischen Traum der Jeffersonschen Demokratie, auf den sich konservative wie liberale und libertäre Verfasser und Zuträger der Magna Charta (und anderer us-amerikanischer Texte) gleichermassen berufen, ein tiefer Widerspruch: Schon zur Zeit Jeffersons baute das Wohlergehen des Einzelnen auf dem Leiden anderer Einzelner. So war der Plantagenbesitzer Jefferson bereit (im Falle der Sklaverei), das Recht auf Privateigentum über die proklamierten Menschenrechte zu stellen. Heute beruht die utopische Phantasie der Westküste auf ihrer willentlichen Blindheit gegenüber - und ihrer Abhängigkeit von - der sozialen und rassischen Polarisierung der us-amerikanischen Gesellschaft.
Ein zweiter Widerspruch: Die Geschichte der Computerindustrie in anderen Ländern zeigt die beschränkte Sichtweise und Reichweite der militant vorgetragenen Anti-Staatlichkeit. In so unterschiedlichen Ländern wie Singapur, Frankreich und China ist oder war der Staat die treibende Kraft bei der Schaffung des On-Line-Netzes, zum Teil auch von dessen Inhalten (wie wünschbar vor allem letzeres ist steht auf einem anderen Blatt).
Treffend dagegen ist - wohl eher unfreiwillig - die Bezeichnung "Magna Charta für das Zeitalter des Wissens", war doch die originale Magna Charta ein feudalistisches, nicht ein demokratisches Dokument, das die Rechte einer bestimmten Schicht, der Adligen, gegen den König klarstellte.

III

Der Cyberspace ist ein Mythos.
Ein erstes Spezifikum des Internet-Mythos5 ist, dass er die zukünftige Welt des Geistes in einem Erweckungs-Tremolo erzählt, und zwar so, als hätte diese Heilsgeschichte bereits stattgefunden. Bereits Platon griff in seinen "Dialogen" auf den Mythos immer dann zurück, wenn er neue Fragen entdeckte, erhellende Antworten aber nicht zugeben vermochte. Und noch bei Karl Keréniy steht der Mythos für die intellektuelle Utopie einer sich selbst deutenden Rede und eines nicht entfremdeten Lebens6. Im Falle der kalifornischen Internetianer ist das nicht anders: Auf die noch kaum erahnbare Komplexität und allen gängigen Systematiken sich entziehende Architektur der Netzwelten antwortet der Mythos mit dem in religiöser Andächtigkeit vorgetragenen Entwurf einer neuen Einheit: Es soll nur eine Ökonomie geben, die des freien Marktes; es soll nur eine Staatsform geben, die der wirtschaftsliberalen Demokratie; es soll nur ein Internet geben, den abgeschlossenen kybernetischen Raum. Etwas eint die meisten der us-amerikanischen Texte über das Internet: das Wort steht immer im Singular.
Den hohe Abstraktionsgrad, der die nicht-teleologische und nicht-lineare Entwicklungen des digitalen, n-diemensionalen Raumses und die Erfahrungen, die wir in ihm machen, kennzeichnet, entnennt die Anschaulichkeit der mythischen Erzählung7. So taucht, zweites Spezifikum, Platons und Descartes reichlich in die Jahre gekommener Leib-Seele- bzw. Materie-Geist-Dualismus wieder auf8. Er äussert sich in einem emphatisch begrüssten neuen Geist, der es dank, im und durch den Cyberspace endlich schafft, die Rohheit der Dinge und den Körper hinter sich zu lassen. Dass die pathetische Beschwörung einer vermeintlichen Befreiung des Geistes durch die Überwindung der Materie als falsch verstandene und philosophisch längst obsolete Überwindung des Prinzips des Dualismus (von Leib und Seele, Notwendigkeit und Freiheit, Gut und Böse usw.) einen naiven Rückfall in die rationalistische Metaphysik darstellt und in ein reduktionistisches Bild vom Menschen mündet - der Leib als "irdisches Gefängnis" (Platon) - wird auch durch neueste neurobiologische Forschungen bestätigt.9
Ein drittes Spezifikum des Internet-Mythos ist der nicht minder emphatisch beschworene freie Markt. Vom ersten Computer - der Differentialmaschine von 1834 - über Flugsimulatoren, von den Anfängen von Microsoft bis zur virtuellen Realität hing der Fortschritt der Computertechnologie auch in den USA immer von staatlichen Forschungsgeldern und von staatlichen Grossaufträgen ab. IBM zum Beispiel produzierte den ersten programmierbaren digitalen Computer erst, als die Firma vom amerikanischen Verteidigunsminsterium während des Koreakrieges dazu aufgefodert wurde. Und Bill Gates Imperium gründet unter anderem auf einem eine Million Gulden schweren Auftrag der niederläändischen Regierung, die auf der Suche nach einer geeigneten Software für ihren Schulunterricht nicht fündig geworden war.10

IV

Der Cyberspace ist eine globale, zugleich aber nur eine globale Realität.
Nicht nur die tagesaktuelle Medienberichterstattung, auch viele der neuen Medientheorien kranken daran, dass sie den Cyberspace aus sich selber heraus erklären wollen: eine neue, bessere und vor allem radikal andere Welt, die eigenen, neuen Gesetzen gehorcht, kann - wie das Paradies - nur aufgrund ihrer eigenen Parametern erklärt werden. Aber wie das verlorene Paradies und wie alle bisherigen Welten, basiert auch diese Welt auf der ganz irdischen, lebendigen und toten Arbeit vieler Geschlechter. Ohne Babylonische Mathematik, ohne das längst vergessene "Optische Cembalo", das der Jesuitenpater Louis Bertrand-Castel 1729 konstruierte, ohne das "Cubisculum obscurum", auch "Perspektiv" genannt, mit dem "einer weiter sehen kann, als man meinen möchte", und mit dem "auch Leute von blödem Geist die kleinsten Buchstaben lesen können", wie es sein Erfinder Giovanni B. Porta im 17. Jarhundert beschrieb, und ohne die permanente Pflege der Kupferleitungen, Glasfaserkabel und Satellitenverbindungen von heute wäre der Cyberspace nicht denkbar. Dass technische Entwicklungen eingebettet sind in konkrete ökonomische, politische und kulturelle Praxen scheint am Ende des 20. Jahrhunderts ebenso banal , wie vernachlässigbar. Wie alle anderen Bereiche des High-Tech-Kapitalismus - der diese Gesellschaft besser auf den Begriff bringt als die gängige Rede von der Multimedialen Gesellschaft, der Informationsgesellschaft oder dem Postinformationszeitalter - bildet auch der Cyberspace keinen Raum gleichberechtigten Handelns und egalitärer Kommunikation. Er ist, wie die übrige Gesellschaft, durchzogen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Die Inhalte, Widersprüche und Grenzen des ausservirtuellen Lebens sind auch die Inhalte, Widersprüche und Grenzen der virtuellen Realität.11

V

Die Hoffnungen und Erwartungen, die in den Cyberspace gesetzt werden, scheidet die Warner und Apokalyptiker von den Heilserwartern und Afficionados. Bei diesen dominiert die Ekstase, bei jenen das Entsetzen.
Von der Fotografie über Telefon, Radio, Fernsehen, Rock'n'Roll-Platten bis hin zum interaktiven Videoclip und zum Cyberspace - die Reaktionen auf das jeweils neueste Medium ist seit 150 Jahren geprägt durch die immergleichen Topoi der Argumentation. Auf der einen Seite Dämonisieriungsstragien, apokalyptische Visionen von der Verdummung der Menschheit, vom "Untergang des Abendlandes" oder gar von der "Gesellschaft des Verschwindens". Auf der anderen Seite: Erlöunsgsphantasien, hymnische Begrüssungen des neuen Mediums oder gleich der jeweils neuesten "Moderne" insgesamt: Von Rimbauds "Il faut étre absolument moderne!" über Brechts und Benjamins Rezeption des Radios als erstes interaktives Medium und Hans-Magnus Enzensberger Bausteine-Theorie von den eingreifenden Medien bis hin zum Traum des KI-Forschers Klaus Haefner von der Grundversorgung der Bevölkerung aus vollautomatischen Fabriken. Blamiert durch die bisherige Medienentwicklung wurden die Apokalyptiker und die Heilserwarter gleichermassen. Weder der Untergang der Gesellschaft, noch deren ,wirkliche' Demokratisierung ist dank der Medien bisher eingetreten. Vor schnellen und langfristigen Zukunftsprognosen sollte auch warnen, dass das jeweils neueste Medium - die Geschichte der Schallplatte und des Telefons belegen es - mitunter vollkommen andere Verwendungweisen fand, als ihre Erfinder es sich je im positiven wie negativen träumen liessen.12

VI

So unterschiedlich ihre Prämissen und Begründungen lauten, für die Heilserwarter und Afficionados macht der Cyberspace wirkliche Demokratie erst möglich.
Neben Multimedia-Enwicklern und -Anbietern wie dem Chef des Media-Lab am MIT, Nicholas Negroponte, und Josef Brauner, dem Vorsitzenden der Sony Deutschland GmbH, lassen sich zu dieser Gruppe manche akademische Freigeister - die zum Teil der Gründergeneration des Internets angehören (wie der mittlerweile legendäre Mitbegründer Electronic Frontier Foundation, Viehzüchter und Ex-Greatful-Dead-Songschreiber John Perry Barlow) - und so unterschiedliche Leute wie der bekannte Multimediaforscher und Berater des US Congress Office of Technology Assessment, Howard Rheingold, verschiedene Medienwissenschaftler wie Norbert Bolz, Manfred Fassler, Wulf R. Halbach oder die zahllosen alternative NetzbetreiberInnen wie das Frauennetzwerk in Berlin, die Agentur Bilwet in Amsterdam, das Künstlernetzwerk "The Thing" in Basel/Wien/Amsterdam/New York, BüroBert in Köln und eine unüberschaubare Zahl von Cyberpunks, Hackern und Newsgroups-TeilnehmerInnen rechnen13. Die wichtigsten Gründe, die diese keineswegs homogene Gruppe für ihre Erwartungen, Hoffnungen oder ihre Prognosen anführt, sind:
1. Der Cyberspace schafft für die Menschen die Fähigkeit und Freiheit, ohne jede Beschränkung miteinander kommunizieren zu können.
2. Er ermöglicht unserer fragmentierten Gesellschaft, wieder ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln.
3. Der Zugang für alle zu einer Vielzahl von Informationen führt zu einer Enthierarchisierung des Wissens. Damit verbunden entsteht
4. eine grössere Transparenz des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens. Dies wiederum hat
5. eine Basisdemokratisierung und eine Horizontalisierung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zur Folge, weil die chaotische Struktur des Cyberspace von keiner Macht zu kontrollieren ist.
6. Der Cyberspace kann zur Plattform für neue Anwendungen, neue Kulturen und neue Gruppen mit neuer Macht werden.
7. Eine bisher fehlende kritische Öffentlichkeit - zum Beispiel auf europäischer Ebene - scheint dank des Cyberspace heute möglich.

VII

Für die Apokalyptiker und Warner bedeutet der Cyberspace mindestens eine schwerwiegende Bedrohung der Demokratie, das "Ende der Demokratie"oder gar den Beginn eines Techno-Faschismus.
In der Mehrzahl handelt es sich - bei dieser angesichts der neuesten Entwicklungen im Wachsen begriffenen Gruppe - um Soziologen, Philosophen und Kommunikationswissenschaftler von unterschiedlicher Provinienz. Dazu gehören etwa Jean Baudrillard, Paul Virilio, Armand Mattelart, Asdrad Torres, Gilles Deleuze, Jean-Marie Guèhenno, Saskia Sassen oder Friedrich Kittler. Zu dieser Gruppe lässt sich auch die "Gruppe hochrangiger Experten" der EU zählen, die 1996 ihren Zwischenbericht "Eine Informationsgesellschaft für uns alle!" abgeliefert hat14, sowie die Debatten der Netz-Community "Nettime"15 . Die hauptsächlichen Gründe, die diese ebenfalls sehr heterogene Gruppe anführt, sind16:
1. Die Materialität der neuen digitalen Medien unterläuft strukturell deren Handhabung durch die gesellschaftlichen Akteure, sie bilden ein eigentliches "System der Nicht-Kommunikation" (Baudrillard). Alle Versuche, die Entwicklung digital-technischer Dispositive zu einem totalen und absoluten System aufzuhalten, sind deshalb illusionär und "melancholische Gefechte après la guerre" (Maresch).
2. Die Trennung von System-Produzenten und Software-Benutzern nach dem Modell der militärischen Kommunikation. Die Abschottung des "untrusted users" von der Kommandoebene des Betriebssystems, der "Protected Mode" (Kittler), ist die Bedingung für den reibungslosen Kommunikationsfluss.
3. Die Implimentierung technischer Standards durch Medienbünde (Berlusconi, Bertelsmann, Kirch, Murdoch, Time Warner usw.) schafft eindeutige Machtverhältnisse. Es entsteht, in den Worten von Gilles Deleuze, eine durch ein "elektronisches Halsband" geschweisste "Kontrollgesellschaft". Den Medienakteuren bleibt nichts anderes übrig, als zu willfährigen Akteuren in einem Spiel zu werden, dessen Regel sie blindlings ausführen, über die sie aber nicht befinden können.
4. Die fehlende bzw. nicht realisierbare Kontrolle der Kontrolleure.
5. Die Enstehung von Intranets (geschlossenen und z. T. geheimen Netzen von Firmen und von staatlichen Stellen wie der NASA, der NSA oder dem Pentagon), die das offene Internet unterlaufen, und bereits heute zu einer wirksamen "Cyber-Segmentierung" (Sassen) geführt haben.
6. Das Wiederauftauchen des totgeglaubten Kolonialismus in verschärfter Form: früher durch Staaten, jetzt durch Unternehmen.
7. Die von den Anhängern des Cyberspace emphatisch begrüsste "virtuelle" oder "Hyper-Demokratie" ist für diese Gruppe eine Bedrohung, weil sie - wegen des Fehlens von wirklichen Dialogen und Diskussionen - der Stimmungs- oder "Konfettidemokratie" und damit totalitären Herrschaftsformen Tür und Tor öffnet.

VIII

Anders als diese Zusammenstellung vermuten lassen könnte, ergeben die Erwartungen und Befürchtungen gegenüber dem Cyberspace kein Nullsummenspiel.
Aggressiv in Angriff genommene, kostspielige Zusammenschlüsse von Firmen zu transnationalen Konzernen neuen Typs und neuer Grössenordnungen17; der Kampf um den Direktverkauf von Informationen; der Versuch, die elektronischen Netze unter die Marketing- und Werbeindustrie zu unterwerfen; die brisante, aber öffentlich noch kaum diskutierte Frage nach der Gebührenordnung; der weiterhin zäh geführte Kampf der National Security Agency (NSA) und der us-amerikanischen Regierung, sämtliche Verschlüsselungsprogramme im nationalen Interesse ausgeliefert zu bekommen und ihre Überlegungen, das Internet notfalls stillzulegen; der (mittlerweilen gescheiterte) Versuch des Pentagon, die Oberhoheit über die Vergabe der Internet-Adressen über eine ihrer Agenturen weiterhin in den Händen zu behalten - während die Diskussionen um die demokratischen Möglichkeiten des Internet in alternativen news-groups und auf Symposien und Tagungen stattfinden -, zeigt einige der gegenwärtig zentralen Kampfplätze und realen Machtverhältnisse, gegen die sich viele Hoffnungen der netizen reichlich naiv ausnehmen.

IX

Was tun? Hält man die Vorstellung einer transparenten Gesellschaft, die heute dank der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bei vielen Politikern (z. B. Al Gore) und kritischen Medien- und Gesellschaftstheoretikern wie Jürgen Habermas ein Revival erlebt, für unrealisierbar, dann wird die - plurale und unabschliessbare - öffentliche Verhandelbarkeit und Diskussion möglichst vieler Aspekte des digitalen Zeitalters zentral.
Wenn die CyberModerne oder der High-Tech-Kapitalismus nicht lnger durch den Gegensatz privat / öffentlich geprägt ist (wie Habermas für die bürgerliche Öffentlichkeit annahm), sondern durch den Gegensatz geheim /öffentlich - Machiavellis Unterscheidung von grell erleuchteten, öffentlichen Piazzas und dunklen, geheimen Palazzos erhält heute eine neue Brisanz - charakterisiert ist, so gilt es, diesem neuesten Strukturwandel der Öffentlichkeit demokratietheoretisch und -praktisch Rechnung tragen. Anders als die von technologischem Determinismus, ökonomischem Liberalismus und Anti-Staatlichkeit geprägte Ideologie des neu-alten Wilden Westens uns weis zu machen versucht, ist Öffentlichkeit weder der ideal vorgestellte Raum - der cyber-space -, in den autonome und handlungsfähige B¸rgerInnen eintreten und argumentativ konsensuelle Meinungen erarbeiten, noch die durch kommerzialisierte Massenmedien hergestellte und damit ihrer Autonomie und Macht beraubte Öffentlichkeit, wie Habermas die Öffentlichkeit in der Industriegesellschaft charakterisiert hat. In der CyberModerne bedeutet Öffentlichkeit auch nicht nur eine Vielzahl gleichberechtigt nebeneinander bestehender Öffentlichkeiten, wie sie die Afficionados des Cyberspace beschwören, sondern die Koexistenz verschiedener Mächte, Übermächte, Mindermächte, auch gleichstarker Mächte, die um die Grenzziehung des öffentlichen Raumes, um Inklusion / Exklusion von Themen, Sichtweisen, Interessen und Gruppen kämpfen. Diese Grenzziehung ist nie abschliessbar, sondern stets das konjunkturelle Ergebnis historischer Kompromisse zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Protagonisten. Eine Erfahrung, die wir gegenwärtig ziemlich handfest auch dieseits des Cyberspace machen, wie ein Blick auf die Auseinandersetzungen um die als "Umbau" vorgetragene Demontage des Sozialstaates zeigt.
Es geht also um die gar nicht neue, Frage, wie das Verhältnis zwischen Privatwirtschaft, Staat und Öffentlichkeit artikuliert ist und wie die politischen Strukturen aussehen sollen, die unter den Bedingungen der Globalisierung der Märkte, Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie lokal und global gewährleisten. Anders gesagt: Es geht in der CyberModerne um das Aushandeln eines neuen, postkolonialen und pluralen, Universalismus.


1 Die Anführungszeichen markieren das Paradoxon eines Autorennamens am Anfang eines Artikels über den Cyberspace. Das oft beschworene Verschwinden des Autors — im digitalen Zeitalter findet es erstmals, wenn auch meist uneingestanden, alltäglich und massenhaft statt. Der Cyberspace ist ein Text (i.e. ein Gewebe) im starken Sinne des Wortes. Viele Fäden sind bereits gewoben, viele Texturen sichtbar und verfügbar; Fasern und Fäden (nicht nur rote) werden von einzelnen und von Kollektiv-Subjekten neu dazugefügt oder weiter gesponnen, neuartige Texturen ausprobiert. Wo endet in diesem Mahlstrom von Bits, Bytes und Informationen das eigene Denken, wo beginnt die angeeignete Originalität? Der Nachweis des wörtlichen Zitates — unwichtig; wen wundert’s, wer spricht? Entscheidend wird der neue Kontext, in den die "eigenen" Fäden gewoben werden, in dem ihre Farben, Längen und Stärken — einzeln und in ihrer Verzwirnung — sich beweisen müssen.
Ich danke der Agentur Bilwet, Richard Barbrook, Andy Cameron, Florian Rötzer und Stefan Münker, einige ihrer Fäden sind im vorliegenden Text mitunter wörtlich, aber ohne Nachweis aufgenommen worden. Rechtfertigung findet ein solches Verfahren diesseits modischer Attitüden in der Hoffnung, dass das Verstärken, Ergänzen und Weiterverzwirnen der von ihnen begonnen oder bereits weitergesponnen Fäden zum substantiellen Gemurmel über die neue Gesellschaft beiträgt. "Die Stärke eines Fadens liegt nicht darin, dass irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern einander übergreifen". (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: L. Wittgenstein: Werkausgabe. Frankfurt a. M 1984, Bd. 1, S. 278).
Die in diesem Artikel vorgetragenen Ideen, Überlegungen und Konklusionen können ohne Autorverweis und ohne Bezahlung übernommen, manipuliert oder sonstwie weiterverwendet werden.
2 Die Begriffe Internet und Cyberspace werden meist unsystematisch und wenig voneinander abgegrenzt verwendet. Eine allgemein akzeptierte Begrifflichkeit hat sich noch nicht herausgebildet. Im deutschen Sprachraum scheinen die Verwendungsweisen darauf hinauszulaufen, dass unter dem Internet vor allem die weltweit vernetzte technische Computerinfrastruktur verstanden wird, über die Texte, Töne und Bilder in digitalsierter Form verbreitet und abgerufen werden, während Cyberspace ausschliesslich den simulierten Raum virtuller Realität meint, der (bis auf weiteres) nur durch die Benutzung von Datenhelm, -brille und -handschuhen begehbar ist.
In den angelsächsischen Ländern wird im Unterschied dazu der Begriff Cyberspace vorwiegend für den gesamten Raum, der durch die Digitalisierung und die weltweite Vernetzung von Computern geschaffen wird, und für alles, was sich darin abspielt, verwendet. Gleichzeitig wird "Internet" oft als Synonym für "Cyberspace" in diesem weiten Sinne gebraucht. Sinnvoll scheint mir folgende Verwendung der Begriffe: Internet in der deutschsprachigen, Cyberspace in der angelsächsichen Bedeutung des Wortes.
3 Dt. in: Kursbuch Internet. Hrsg. v. Stefan Bollmann / Christian Heibach. Mannheim 1996, S. 98.ff.
4 Zum methodologischen Stellenwert dieses nicht sehr eleganten Neologismus vgl. Manfred Fassler / Wulf R. Halbach: CyberModerne: Digitale Ferne und die Renaissance der Nahwelt. In: M. Fassler / W. R. Halbach (Hrsg.): Cyberspace. Gemeinschaften, virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten. München 1994, S. 23f.
5 Vgl. dazu neuerdings auch den Sammelband: Mythos Internet. Hrsg. von Stefan Müncker und Alexander Roesler. Frankfurt a. M. 1997.
6 Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. 2 Bde. München 1966. (Zuerst Zürich 1951).
7 "Die Aktualität des Mythischen in unserer Kultur gründet darin, dass Mythen unerfindbar, unbefragbar und erklärungsbedürftig sind. Der Mythos ist eine Kontingenzbewältigung, die nicht erklärt, sondern in Geshichten verstrickt. Er bietet genau das, was unsere moderne Lebenswelt am schmerzlichsten vermisst, nämlich Dichte und deutliche Markierung, Bedeutsamkeit und Prägnanz." ( Norbert Bolz: Das Verschwinden der Rhetorik in ihrer Allgegenwart. In: Heinrich F. Plett (Hrsg.): Die Aktualität der Rhetorik. München 1996, S. 74f.).
8 Für Platon vgl. insbesondere den "Phaidon"-Dialog.
9 Vgl. einführend: Simon Penny: Körperwissen, digitale Prothesen und kognitive Diversität. In: Kunstforum Bd. 132/1996 (= Die Zuknft des Körpers, Bd. 1), S. 151ff. Dort wird gezeigt, wie "wir mit den Armen und dem Magen denken", und auf die entsprechende Fachlitertur verwiesen. Vgl. auch: Richard Shustermann: Soma und Medien, ebd., S. 210ff. sowie Allucquère R. Stone: Würde sich der wirkliche Körper bitte erheben? In: Kunstforum Bd. 133/1996 (= Die Zuknft des Körpers, Bd. 2), S. 68ff.
Auch Case, der Held in William Gibsons den Begriff Cyberspace prägenden Kult-Roman Newromancer (1984, dt. 1987), versucht, reiner Geist zu werden. Er trägt dementsprechend eine snobistische Verachtung für das "Fleisch" zur Schau — und bleibt doch an seine Leibhaftigkeit gebunden. Er kann sich seinen Obsessionen erst dann wieder hingeben, nachdem seine durch Mykotoxine ruinierten Gehirnzellen durch einen teuren neurochirurgischen Eingriff wieder restauriert wurden.
10 Dank an Walter van der Cruijsen von "desknl", der mir diesen Hinweis gab.
11 Deshalb ist etwa die in den Medien aufgeregt vorgetragene Mitteilung, dass es im Cyberspace Rassimsus und Pornographie gibt, reichlich naiv, scheinheilig oder schlicht zynisch.
12 Vgl. dazu Giaco Schiesser: Demokratie in der CyberModerne. In: Basler Magazin, Politisch-kulturelle Wochenend-Beilage der Basler Zeitung, Nr. 4 , S. 6-7.
13 Vgl. zu den beiden folgenden Thesen auch Giaco Schiesser: Arbeitswelt, Demokratie, Staat — einige Problemfelder im politischen und sozialen Umfeld elektronischer Märkte. In: Beat Schmid, Yves Pigneur, Giaco Schiesser: Electronic Markets: Importance and Meaning for Switzerland. Bern: Schweizerischer Wissenschaftsrat, SWR, 1996. (= Technology Assessment, TA, 23/1996), S. 183ff.
14 Eine Informationsgesellschaft für uns alle! Zwischenbericht. Januar 1996. Hrsg. von der Europäischen Kommission. Generaldirektion V: Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen und soziale Angelegenheit. Brüssel 1996. (Auch abrufbar über <http://www.ispo.cec.be/hleg/hleg.html>)
15 Vgl. die äusserst informative Zusammenstellung : Readme! Filtered by Nettime. Ascii Culture and The Revenge of Knowledge. Ed. By Joseph Bosma et al. N.Y. 1999.
16 Eine fundierte Zusammenstellung aktueller Positionen zur Netztkritik bietet der Sammelband von: nettime (Hrsg.): Neztzkritik. Materialien zur Internet-Debatte. Berlin 1997.
17 Die beiden grössten Telekommuniaktonsanbieter Europas z. B., die deutsche Telekom und France Telecom, haben zusammen 4,2 Milliarden Dollar in ihren us-amerikanischen Partner Sprint investiert. Zusammen bilden die drei die weltweit drittgrösste Telekommunikationsallianz. Vgl. Saskia Sassen: Cyber-Segmentierungen. Elektronischer Raum und Macht. In: Mythos Internet. Hrsg. von Stefan Müncker und Alexander Roesler. Frankfurt a. M. 1997, S. 226.


VORTRAG
gehalten am 22. November 1997 in Fribourg
am Symposium <MultiMediaMania>,
veranstaltet von der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaften, SGKM.

DRUCKFASSUNG
[Erschienen in: Multi Media Mania. Reflexionen zu Aspekten der Neuen Medien. Hrsg. von René Pfammatter. Konstanz: UVK / Ölschläger 1998, S. 267 - 277.]

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