Giaco Schiesser
Video killed the radio star
Musikvideos - Kunst der Gehirnwäsche oder Schule der Ästhetik?
(1996)
Musikvideoclips, das heisst in der Regel: Ein Stück Popmusik von drei
bis vier Minuten Länge; singende, tanzende, ausgelassene, verträumte
oder coole junge Menschen, die sich in bizarren, virtuellen oder 08/15-Landschaften,
Inneräumen oder beidem finden, in erotisch-rotes, kühl-blaues
oder aufgestellt-buntes Licht getaucht; Grossaufnahmen der Sängerin
oder des Sängers wechseln ab mit aufsteigenden Rauchsäulen, zerspringenden
Spiegeln, über gestylte Oberflächen zuckenden Lichtblitze; Schweissperlen
schimmern auf nackter Haut, Bekleidungen, Bewegungen und Gesten geben erotische
Versprechen, eine Gitarre wirbelt vorbei, Jungsiegfried trotzt den Gefahren
der Welt, Eva verführt, verliert, findet wieder und verliert erneut
ihren Adam. Verarbeitet wird in Viedeoclips alles, was an Text, Bild und
Ton irgenwie und irgendwo greifbar ist (also zunehmend alles). Und alles
wird vorgetragen in einem wahnwitzigen Tempo: alle drei Sekunden ein Schnitt,
oft noch öfter.
Ist das, was wir heute angesichts der rund um die Uhr ausgestrahlten Musikvideoclips
erleben, der aktuelle Beitrag einer allgegenwärtigen Verdummungsindustrie,
oder sind es Lehrjahre für eine neue Wahrnehmung, wie sie im digitalen
Zeitalter dereinst für alle von uns überlebensnotwendig werden?
Von Theodor W. Adorno ist hinlänglich bekannt, dass er mit Jazzmusik
auf Kriegsfuss stand und die zeitgenössische Kultur in der bürgerlichen
Gesellschaft als alles kolonisierende Bewusstseinsindustrie interpretierte.
Und Hanns Eisler wandte sich bereits 1961 mit Grausen von einem Grossteil
der massenmedial ausgestrahlten Musik ab. "Sie brauchen nur Ihr Radio
aufzudrehen, zu einer xbeliebigen Tagesstunde und Sie werden eine Fülle
von Dummheit hören, die Sie, auch wenn sie kein Musikkenner sind, als
Dummheit erkennen werden". Was die beiden zur Musik aus dem House-,
Tekkno-, Rave- oder Grunge-Genre und zu den Musikfernsehstationen VIVA I
& II oder MTV sagen würden, muss offenbleiben, freundlich würde
es mit Sicherheit nicht ausfallen. Sicher ist, dass heute die über
4Ojährigen mit Eislers und Adornos Ansichten den Musikvideoclips begegnen.
Der Augenschein scheint ihnen recht zu geben: Zur Zeit werden pro Jahr aus
Kommerzgründen rund 2000 Videoclips produziert. Der Sender Music Television
z. B. sendet täglich 24 Stunden Videoclips, 12 bis 15 pro Stunde, bis
zu 360 Clips pro Tag (die meisten davon mehrmals). Allerdings, wir wissen
es seit Karl Marx Analyse des Kapitals vor 100 Jahren, spätestens aber
seit Tschernobyl, gibt der Augenschein die Wirklichkeit nicht mehr her.
Längst ist die Realität nicht nur in die Funktionale (Brecht),
sondern in die Multimediale gerutscht. Schauen wir deshalb zu, was dort
passiert.
MTV - Weltfernsehen Nummer Eins
Video killed the radio star heisst ein Videoclip der Pop-Gruppe The Buggles
von 1979. Am 1. August 1981 startete Music Televesion (MTV), ein us-amerikanischer
Fernsehsender, mit diesem Song sein Programm. Nachdem 1979 in den USA die
Schallplattenverkäufe drastisch zurückgegangen waren - in den
USA spricht man noch heute von der "great depression of 1979"
- suchten die grossen Plattenfirmen verzweifelt nach den Gründen. Analysen
ergaben, dass dieser jähe Einbruch einerseits eine Folge der visuellen
Dynamik des Fernsehens war, mit dem die jugendlichen HörerInnen in
den USA inzwischen ganz selbstverständlich aufgewachsen waren, und
andererseits ein Effekt der konservativen Rock'n'Roll-Programm-Gestaltung
der Radiostationen. Im Grunde wäre also der Titel Television killed
the radio star der passende gewesen. Aber die MTV-Macher waren ausgefuchste
Leute, auch wenn William Roedy, heutiger Leiter der internationalen Abteilung
von MTV Networks, ein ehemaliger, an der Elite-Militärakademie Westpoint
ausgebildeter Vietnamkämpfer, und in den siebziger Jahren Befehlshaber
dreier Nato-Nuklear-Stützpunkte, noch nicht dabei war. Was nicht war,
konnte ja noch werden. Und der Erfolg gab den MTV-MacherInnen schnell recht.
Überall in den USA, wo nach und nach MTV empfangen werden konnte, stiegen
die LP-Verkäufe wieder rapide an.Was MTV mit dem Buggle-Song als Tatsache
hinstellte, schaffte es in den nächsten Jahren: MTV killed the radio
star engültig - und liess ihn zugleich, als audio-visuellen Star, wie
ein Phönix aus der Asche wieder auferstehen.
Es ist hier nicht die Zeit und der Raum, den unaufhaltsamen Aufstieg des
MTV zu skizzieren. Ein paar Daten sind dennoch unverzichtbar, denn ohne
MTV gäbe es heute keine weltumspannende Musikvideo-Clip-Kultur. Mit
ihrem feinen Gespür für Stil, Lebensweisen und Ironie eröffnete
MTV am 1. August 1987, also auf den Tag genau sechs Jahre nach seiner Geburt,
die erste ausseramerikanische Niederlassung: MTV Europa. Der erste ausgestrahlte
Song von MTV-Europa war Money for nothing und stammte von der Gruppe Dire
Straits. In diesem Fall lieferte MTV nicht hoffnungsfrohes Wunschdenken,
sondern einen ironischen Hinweis auf harte Tatsachen: Da MTV keine eigenen
Clips produzierte und keine Gebühren für deren Ausstrahlung bezahlte,
hatte er tatsächlich money aus fast nothing gemacht. So wies MTV-USA
bereits 2 1/1 Jahre nach seinem Start für das erste halbe Jahr 1984
einen operativen Gewinn von 8 Mio. Dollar aus.
Heute ist MTV unbestritten das Weltfernsehen Nummer 1. MTV ist in Nigeria,
Kenia und Südafrika ebenso zuhause wie Europa, in allen asiatischen
Ländern wie in den USA, in Lateinamerika wie bald auch in Peking. Mit
seinen Kabelstationen und zwölf Satelliten erreicht MTV damit fast
dreihundert Millionen Haushalte auf allen fünf Kontinenten, also praktisch
alle Regionen der Welt. Die dreihundert Millionen Haushalte machen weltweit
mehr als einen Viertel der Familien mit Fernsehen aus. War MTV anfangs ein
reines Kommerzunternehmen, um der darniederliegenden Plattenindustrie wieder
auf die Beine zu helfen, so ist MTV heute eine Synthese aus aufmüpfigem
Geist des Rock'n'Roll, hedonistischem Konsumverhalten und angepasstem liberalem
Denken. Den dosiert eingesetzten sozialen Botschaften etwa zur Aids-Prävention,
ökologischer Rettung der Erde, Aufrufen, sich an den Wahlen zu beteiligen
oder den Sendungen mit Kunstvideos von höchster Qualität werden
andere Programme entgegengesetzt, die physische Kraft, Sinnlichkeit und
sorglose Vergnügungsjagd als höchste Werte zelebrieren.
MTV ist damit längst, und nicht nur in den USA, zum Symbol uralter
Konflikte geworden, wie sie seit jeher die Einführung eines neuen Mediums
nach sich gezogen hat. Für die PuritanerInnen unterschiedlichster Couleur
ist MTV ein dämonisches Unterfangen, das die Jugend dazu animiert,
sich der Unzucht hinzugeben und das alle möglichen und unmöglichen
Sünden und Gewalttaten verherrlicht. Für linke und liberale Intellektuelle
ist MTV der Gipfel an Oberflächlichkeit und Gehirnwäsche, eine
strikt kommerzielles Unternehmen, das sich ein libertäres Mäntelchen
umgehängt hat, für viele FeminstInnen ein Ausbund an Rassismus
und Frauenfeindlichkeit. Für VideomacherInnen und KunstkritikerInnen
dagegen gilt MTV nicht nur als potentieller Arbeitgeber, sondern als ultimative
Kunstform einer Kunst, die sich auf der Höher unserer Zeit, der sogenannten
Postmoderne, bewegt. Für seine jugendlichen Anhänger schliesslich
- MTV formuliert als Zielpublikum die 12- bis 34jährigen, mit der Kerngruppe
der 12- bis 24jährigen - ist MTV der einzige Fernsehsender, in dem
sie sich erkennen: unkalkulierbar, rebellisch, unverschämt, cool.
Die Postmoderne des High-Tech-Kapitalismus
Was ist gemeint, wenn die AnhängerInnen der MTV-Kultur davon reden,
dass Musikvideoclips die, ja sogar die endgültige Kunstform der Postmoderne
darstellen?
Was auch immer unter dem etwas seltsamen Begriff Postmoderne verstanden
wird, es lassen sich bei aller Unterschiedlichkeit der Definitionen hinter
dem Begriff doch einige beunruhigende Eigentümlichkeiten unserer Epoche
ausmachen. Stark vereinfacht lässt sich die Postmoderne folgendermassen
beschreiben.
In der Postmoderne geht es ganz allgemein: 1. um das Verhältnis von
Wirklichkeit - Repräsentation - Referenz; 2. um eine Infragestellung
von Identität (Stichwort plurale Identitäten); 3. um eine Infragestellung
des Subjektes (Stichwort Fragmentierung des Subjektes); 4. um ein Schwinden
der kritischen Distanz, und 5. um die Entstehung von Hyperräumen (immer
wieder genanntes Beispiel: das Bonaventure Hotel in Los Angeles). In ästhetischer
Hinsicht geht es vor allem um das Niederreisen der Differenz von hoher und
trivialer Kunst und, damit eng verbunden, um eine neue Bewertung des Zusammenhangs
von Kunst und Kommerz. Im einzelnen Kunstwerk schliesslich geht es in der
Postmoderne insbesondere um eine gewisse Oberflächenhaftigkeit (was
nicht zwangsläufig Oberflächlichkeit bedeutet) und um die Verwendung
von Parodie und Pastiche als ästhetische Verfahren. Wobei Parodie "die
ironische Darstellung einer Darstellung" und Pastiche die "ausdruckslose
Parodie, eine Kunst der Imitate, denen das Original abhanden gekommen ist"
(Fredric Jameson), meint.
Bilder ohne Referenz, Identitäten ohne Identität
Ich will im folgend exemplarisch zeigen, was es mit der postmodernen Befindlichkeit
und mit postmodernen Anforderungen auf sich hat, die in den Musikvideos
manchmal unbewusst, meist aber bewusst verdichtet dargestellt werden. Ich
werde mich auf drei Aspekte beschränken: auf das Infragestellen der
Repräsentation und der Identität und auf das Moment der Oberflächenhaftigkeit.
Cry (19xx) von Kevin Godley und Lol Creme ist ein Video, das gerade wegen
seiner Schlichtheit das Thema der Repräsentation auf eine sehr klare
Weise darzustellen weiss. Während des vier Minuten dauernden Videos
sieht man nur Nahaufnahmen von einzelnen Gesichtern in Schwarzweiss, die
direkt in die Kamera blicken und die langsam ineinander übergehen.
Das Ganze ist eine fliessende Sequenz von singenden, sehr unterschiedlichen
Gesichtern, die alle mit derselben Stimme dasselbe Lied singen. Der Zuschauer,
die Zuschauerin ist sich bewusst, dass die Stimme, die er/sie hört
und auch "sieht", weil die Gesichter ihre Lippen synchron zum
gesungenen Text bewegen, nicht zu den Menschen gehören,die ihnen zusingen.
Was hier auf eindrückliche Weise demonstriert wird, ist die in den
Musikvideos erworbene und später weiter ausgebaute Autonomie von Bild
und Ton. Obwohl hier Bild und Ton noch nicht völlig auseinanderlaufen,
steht Cry dennoch quer zu den gang und gäben Formen audiovisueller
Kommunikation: Mit Bild und Ton wird nicht mehr wie in den Fernseh- und
Kinofilmen eine Verbindung angestrebt - die eine Synchronizität oder
aber auch ein scharfer Kontrast sein kann -, sondern eine vollständige
Autonomie.
Eine zweite Besonderheit von Cry liegt darin, dass die Repräsentation
nirgends eine feste Form bekommt. Godley und Creme lassen die Bilder langsam
so ineinander übergehen, dass manchmal für einen kurzen Moment
eine seltsames Gemenge von zwei total verschiedenen Gesichtern zu sehen
ist. Zum Beispiel die schwer geschminkten Augen und das blonde Haar einer
Frau, verbunden mit der bärtigen unteren Hälfte des Antlitzes
eines schwarzen Mannes. Während die Bilder in Cry jedesmal noch einen
kurzen Moment lang Ausdruck eines hybriden Gesichtes sind, so wird einige
Jahr später im Musikvideo Black or White von Michael Jackson die Repräsentation
völlig demontiert.
In Black or white (1992) leistet der stets androgyn auftretende Michael
Jackson innerhalb des kommerziellen Videoclip-Rahmens seinen Beitrag gegen
jegliche Form von Rassismus (Refrain: it doesn't matter if you are black
or white). Black or white unterscheidet sich von den üblichen Clips
schon durch seine Länge und seine Aufteilung. Der 11minütige Clip
ist als Triptychon angelegt. Er beginnt (und endet) mit einer Rahmengeschichte,
die die heutige Eltern- und Jugendlichen-Generation und ihr differierendes
Lebensgefühl ins Spiel bringt (this is garbage, sagt der Vater zum
Sohn, der ihn darauf hin ins Pfefferland wünscht, wohin der Vater auch
umgehend befördert wird), einem Mittelteil, auf den ich im besonderen
eingehen will und einem dritten Teil, der als Alptraum kommender Rassenunruhen
gesehen werden kann, falls die Gleichstellung von Black and White nicht
wirklich erfolgt (ein Alptraum der noch im gleichen Jahr in den sogenannten
Rassen-Unruhen von Los Angeles Wirklichkeit wurde). Der Clip ist gespickt
mit Elementen, auf die ich hier nicht eingehen kann, die in vielen der besseren
Videos aber immer wieder thematisiert werden: Kritik am Starkult, Generationenkonflikt
und das comichafte, durch die Medien geprägte Verhalten der Beteiligten,
Hip-Hop-Musik als Kulturen verbindend Musik (der weisse Junge, der mit der
Stimme eines dreissigjährigen schwarzen Rapers singt), Kritik am Macho-Gehabe
(durch den oft wiederholten Griff Jacksons an sein Geschlechtsteil) und
andere. Formal wird vor allem die Inszenierung, die Gemachtheit des Clips
herausgestellt, es wird ganz offensichtlich gemacht, dass es in dem Clip
keine Authentizität mehr gibt, alles ist Konstruktion. Worum es mir
hier geht, ist die mittlere Sequenz des Triptychons, in dem man wie in Cry
von Godley und Creme Gesichter ineinander verfliessen sieht: Übergänge
von in Halbtotale festgehaltener Menschen weisser, gelber, roter und schwarzer
Hautfarbe, die sich rhythmisch in immer neue Gesichter verwandeln. Wie in
Cry liefern alle Beteiligten ihren lippensynchronen Beitrag zum Lied, die
Stimme stammt von Michael Jackson, den man in diesem Teil als ZuschauerIn
nicht zu Gesicht bekommt. Im Gegensatz zu den Transformationen von Cry sind
die Übergänge in Black and White von einem Gesicht zum nächsten
vollkommen unsichtbar. Mittels avanciertester Computergraphik werden die
Gesichter nahtlos ineinander übergeführt. Kaum hat die eine Figur
feste Formen angenommen, verwandelt sie sich schon weiter in eine völlig
neue Erscheinung: Eben noch sang vor unseren Augen ein weisser Mann fröhlich
den Text von Michael Jackson, schon verwandelt er sich unmerklich in eine
negroide Frau, die in Jacksons Stimme fröhlich weitersingt. So manifestieren
sich hier die Bilder als ein willkürliches Zeichen: sie haben sich
von der Pflicht, wahrnehmbare Wirklichkeit auszudrücken (nicht von
der Wirklichkeit selbst) befreit. Und: Die Brüchigkeit des Individuums
ist manifest geworden, ich bin zugleich viele und viele sind zugleich Teil
von mir.
Kein Ende
Wie aber steht es mit der überwältigenden Menge der Mainstream-Musikvideos,
die unseren Blick mit Erotik, Glamour und Gewalt verführen, die mit
glänzenden Bildern den menschlichen, vor allem den weiblichen, aber
auch den Maschinen-Körper feiern wollen? Die Politur, der Karrosserieglanz
der neunziger Jahre gewissermassen, der hier zur Schau gestellt wird, bannt
unseren Blick an der Oberfläche, an der Äusserlichkeit des Bildes
fest. Nirgends wird man eingeladen, auf die Suche nach dem wirkklichen Menschen
zu gehen. Mehr noch: eine solche Suche läuft immer von neuem ins Leere,
bleibt an einer Fassade, an der glänzenden Aussenseite (etwa eines
Models, eines Interieurs, einer Landschaft) hängen, an Bilder, die
keine dahinterliegende Bedeutung mehr kennen: Hinter der Oberfläche
gibt es nichts, auch kein Mysterium der Leere. Auch hier also eine Zusammenbruch
der Referenz, eine Aushöhlung der Bilder bis auf ihre Hülle. Man
braucht die These von der völligen Beliebigkeit der Postmoderne nicht
zu teilen, um zu sehen, dass solche Zusammenbrüche der Bedeutungen
und Aushöhlungen der Bilder nicht nur in der Kunst sondern in allen
Lebensbereichen ein alltägliches Phänomen geworden sind (in der
Politik etwa die Aushöhlung des Bildes und der Idee der Schweiz durch
Fichenskandal, Geldwäschaffären, Ausweisungspraxis im zweiten
Weltkrieg), auf die neue Wahrnehmungs-, Interpretations- und Umgangsweisen
unsererseits gefordert sind.
Worin das alles - vorläufig - enden kann, darüber gibt insbesondere
das innovative, House-Genre Aufschluss. Aus dessen Tradition stammt ein
Clip der Gruppe Humanoid mit dem tiefstapelnden Titel Stakker Communication
(19xx), zu deutsch etwa "sich immer schneller stapelnde Kommunikation".
Der Clip dauert genau 3 Minuten 39 Sekunden. Es lohnt sich, selber zur Kenntnis
zu nehmen, was man in dieser Zeit alles an Bildern und Tönen unterbringen
kann und zu testen, wie lange man das gebotene Augen- und Gehörbombardement
auszuhalten vermag. Die von einem Computer synthetisch erzeugte Musik ist
nur Rhythmus, die Bilder jagen mit kolossaler Geschwindigkeit vor unseren
Augen vorbei. Hier gibt es weder Kontinuität noch die Darstellung einer
Wirklichkeit in 24 Bildern pro Sekunde (wie im Film) zu entdecken. In Stakker
Communication ist fast jedes der 24 und mehr Bilder pro Sekunde ein anderes.
Der Effekt ist eine rasende Menge von Eindrücken, die auf die ZuschauerInnen
einstürzen; was genau in den Bildern ausgedrückt wird, ist kaum
noch zu unterscheiden. Bild und Ton sind zudem digital erzeugt und verformt,
produziert von Softwareprogrammen. Das bedeutet auch: was hier ausgedrückt
wird, hat zuvor nirgends existiert. Für Stakker Communication gab es
keine realen Modelle, die vorher und ausserhalb ihrer "Realisation"
existiert haben, die den Bildern einen herkömmlichen Wirklichkeitsgehalt
hätten verschaffen können. Dieses Musikvideo verweist endgültig
nicht auf etwa anderes, auf ein "anderswo", es ist nur eine Oberfläche
aus Rhythmus und Form - mit einer Ausnahme. Es gibt einen allerletzten Anhaltspunkt
einer vorgängien Realität, eine tanzende, digital bearbeitete
Frauenfigur, die sich allerdings zunehmend, Pixel für Pixel, auflöst.
Konsequent lassen Humanoid auch sie schliesslich noch weg. Der 25-minütige
Clip Eurotechno (19xx) ist nur noch ein Effekt von Formen, Farben und Rhythmus,
es gibt nicht die Spur eines,realistischen' Anhaltspunktes mehr, an den
sich das Auge der ZuschauerInnen hilfesuchend anklammern könnte. Will
er/sie sich zu Eurotechno in ein Verhältnis setzen, muss er/sie ein
bisher unbekanntes, eigenes Koordinatensystem, eine neue Kartographie, entwickeln,
mit dem er/sie diesem neuartigen Rhythmus-, Formen- und Farbenraum ,lesen'
und sich in ihm bewegen kann.
Nüchternheit, Witz, Pfiffigkeit und tiefere Bedeutung
Nun wäre das alles sicherlich äusserst bedenklich, wenn das Zielpublikum
solcher Clips, die Jugendlichen zwischen 12 und 34, das täten, was
man ihrer Elterngeneration bereits vor dreissig Jahren bei der Heraufkunft
des Fernsehens unterstellt hat: nichts als fernzusehen. Dass die damalige
Thesen - die Kinder sehen nur noch fern, Fernsehen macht dumm - sich sehr
schnell blamierten, sollte zumindest zur Vorsicht in der Beurteilung der
Auswirkungen von Musikvideoclips mahnen. Alle Untersuchungen zur Rezeption
von Musikvideoclips (wie auch von Computern) bei Jugendlichen machen zwei
Dinge immer wieder deutlich. Erstens, der eremitische, zum Autismus und
zur Gewalt neigende Videoclip-Zuschauer ist eine Schimäre. Zweitens,
der mal verzückt gelobte, mal kulturpessimistisch kritisierte Hedonismus
der Jungen in unserer "Erlebnisgesellschaft" (Gerhard Schulze)
ist stark zu relativieren. Alle Jugendlichen bewegen sich in verschiedenen,
in sich widersprüchlichen Welten mit ihren je eigenen Gesetzen (etwa
zuhause, in öffentlichen Räumen, in der Schule, in der Freizeit)
- und sie wissen sehr genau und nüchtern zwischen diesen Welten zu
vergleichen, zu unterscheiden und sich entsprechend unterschiedlich darin
zu bewegen. So steigt der ravende Bankangestellte am Freitag in seine phantastische
Techno-Disco-Kluft, begibt sich auf seine Raves und After-hours bis Montag
früh um 7 Uhr, ehe er eine Stunde später wieder zum Angestellten
in Anzug und Krawatte am Bankschalter mutiert.Vor diesem Hintergrund sind
die Musikvideoclips - die aneinandergereihten schnellen Schnitte, die Reduzierung
oder völlig Auflösung ganzer Geschichten auf drei Minuten, die
Mixtur aus Tricks und Animation mit realen Landschaften und Menschen, die
Infragestellung von Wirklichkeit, das Ausleben pluraler und fragmentierter
Identitäten in einer chaotischen Welt und nicht zuletzt der Witz, die
Ironie, die Pfiffigkeit und deren tiefere Bedeutung, die nicht nur die besten,
sondern eine ganze Anzahl kommerzieller Musikvideoclips auszeichenen - tatsächlich
"Trainingsprogramme" (Bazon Brock) für ein Leben, manchmal
nur ein Überleben, in unserer Zeit; eine Schule der Ästhetik (Ästhetik
im buchstäblichen Sinne als "Wahrnehmung") für ein Leben
im digitalen High-Tech-Kapitalismus.
Literatur
Michael Altrogge, Rolf Amann: Videoclips - die geheimen Verführer der
Jugend? Berlin 1991.
Veruschka Body, Peter Weibel (Hrsg.): Clip, Klapp, Bum. Von der visuellen
Musik zum Musikvideo. Köln 1987.
Jürgen Grimm (Hrsg.): "Das attraktive Chaos und die Chance zur
Reflexivität." Ein Gespräch über Videoclips zwischen
Bazon Brock, Jürgen Grimm und Roland Schmitt. Siegen 1989.
Fredric Jameson: Postmoderne - zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus.
In: A. Huyssen / K. R. Scherpe (Hrsg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen
Wandels. Reinbek 1986, 21993.
Sound & Vision - Musikvideo und Filmkunst. Hrsg. vom Deutschen Filmmuseum.
Frankfurt am Main 1993.
Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt am Main, New York 1992.