Claudia Spinelli

Kunst kommt von können?

Manfred Pernice bei Mai 36 und Annemarie Verna

Kunst kommt von können, meinen viele, und haben gar nicht mal so unrecht. Was dabei jedoch meist vergessen geht, das ist die Frage, was denn ein Künstler können müsse. Künstler, die mit kunstfertiger Malerei oder perfekter Fotografie brillieren, haben in der Regel wenig Probleme, mit ihrer Begabung an die Öffentlichkeit zu treten, Applaus und Erfolg sind ihnen sicher. Was aber, wenn ein Künstler sein eigenes Unvermögen zu Markte trägt, rohe Materialien, vage Zusammenhänge präsentiert? In seiner Heimat gilt der Deutsche Manfred Pernice als eines der hoffnungsvollsten Nachwuschstalente, und in Zürich wird der 39jährige mit Mai 36 und Annemarie Verna gleich von zwei der renommiertesten Galerien vertreten. Eine Einzelausstellung in der Kunsthalle hat er auch schon hinter sich. Woher die Aufmerksamkeit, woher die Liebe zu diesem eigenartigen Künstler? Über die spezifischen Beweggründe von Galeristen, Sammlern und Kuratoren kann man nur spekulieren. Sicher ist, dass es Manfred Pernice gelungen ist, Menschen für eine Arbeit zu gewinnen, die schwer zugänglich ist und sich dem Publikum in keiner Weise anbiedert.

In seiner aktuellen Ausstellung bei Mai 36 steht ein Planschbecken für Kinder. Statt mit Wasser ist es mit Erde gefüllt. Eigenartiges Bildmaterial findet sich auf der bis auf halbe Höhe hellblau gestrichenen Wand. Vor Baumkronen sind zwei Giraffenhälse auszumachen, daneben ein paar Skizzen, sowie das Foto einer unterirdischen Gartensituation, die durch Oberlichter erhellt wird. Auf einem zylindrischen Sockel steht eine vergitterte Skulptur. Ein gefangenes Tier oder Stütze für ein empfindliches Gewächs? Die Versuche, die einzelnen Elemente der Installation in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, scheitern. "Botanik", so der Titel der Rauminstallation, ist harte Kost. Die Assoziationsketten sind unterbrochen, sie verlaufen sich im Leeren oder in der Unendlichkeit eines Gedankenstroms, der andauernd seine Richtung ändert. Ein Zentrum ist nicht auszumachen, es ist ebenso aus dem Bild gerutscht, wie die Rümpfe der Giraffen, deren Hälse mit den Baumkronen verschmelzen. Lamarque, Darwin, Evolution, Fressen, Wachstum, Freiheit, Zoo, Regen, Europa, Sonne, Afrika, Überlebenskampf, die Motive wirbeln durcheinander. Statt auf Zuspitzung setzt Pernice auf Gleichzeitigkeit, mehr noch: er erweitert und kompliziert. So erinnert eine zweite Skulptur, die ebenfalls bei Mai 36 zu sehen ist, an ein Siegerpodest. Statt in drei hierarchische Stufen zu unterteilen, verfügt das Gebilde über fünf Ebenen und greift nicht nur nach rechts und nach links, sondern gleich auf alle vier Seiten aus. Das ergibt ein komplexes Strukturmodell, das hin und wieder mit Nummern, teilweise mit runden Öffnungen versehen ist. An der Wand dann Fotografien. Eigenartig und vollkommen unregelmässig durchnummeriert, ohne direkten Bezug zu den Ebenen der hierarchischen Skulptur. Alles Indizien, dass hier einer angetreten ist, Ordnung zu schaffen. Die unüberschaubare Menge an Zusammenhängen, Quer- und Nebenbezügen hat jedoch zur Kapitulation gezwungen. Pernice hat das Handtuch vorzeitig geworfen. Oder sollte man sagen rechtzeitig? Der Begriff des Scheiterns liegt einem auf der Zunge, passt letztlich aber nicht. Denn aus der Perspektive des Künstlers ist es die Angst vor einem Fehler, die Angst vor voreiliger Festlegung, die ihn dazu bringt, das eigene Tun zu drosseln. Die einzige Gewissheit sei das Provisorium, sagt er, und beharrt bei aller Vagheit auf Präzision.

Die zylindrischen Skulpturen, die bei Annemarie Verna zu sehen sind, verfügen über menschliche Dimensionen. Es sind kryptische Behältnisse, Identitäten, die sich nur bruchstückhaft artikulieren und doch voll und ganz da sind. Sie nehmen Raum ein und fordern Aufmerksamkeit, viel Aufmerksamkeit. In den physischen Formkörpern, die Pernice in die Welt setzt, ist ein subtiles Versprechen enthalten. Ob es sich tatsächlich einlöst, ist ungewiss. Pernices Welt ist ein Spiel mit den Möglichkeiten, sein Fortgang hängt von der Bereitschaft des Publikums ab, sich auf ihn und eine Kunst einzulassen, deren Anspruch darin liegt, sich gekonnt am Zweifel zu orientieren.

Claudia Spinelli

Erschienen: NZZ, 17. 2. 2002