Alexandra Stäheli

Männer ohne Gedächtnis

Im Kino platzen gegenwärtig die Gedächtnislücken auf

Was hat ein Mann in Zeiten asteroider Börsencrashs, umstürzender Familienrollen und drohender Kriege gegen das Böse noch zu verlieren? Seine Stelle? Seinen Verstand? Seine Männlichkeit? Oder einfach nur sein Gedächtnis?

Früher waren die Zusammenbrüche der Männer noch übersichtlicher. Sie betrafen schlicht und kompakt die Vergangenheit: Männer verloren sie, um sie nach einer Zeit des Irrens und Suchens nur umso gnadenloser wieder vor die Füsse geworfen zu bekommen; denn meist war es kein gutes Leben, das da unheilvoll, fratzenhaft, zuweilen auch mörderisch in eine durch Gedächtnislücken entleerte Gegenwart zurückkam. So zumindest stellt es sich im amerikanischen Kino der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre dar, das eigens ein neues Genre erfand, um die existentiellen Ängste und Schuldgefühle, die Traumata und vor allem auch die Entfremdung jener Männer auf die Leinwand zu bringen, die von der Front nach Hause zurückkehrten: Die Atmosphäre des Film noir ist geprägt vom Lebensgefühl der Veteranen, denen die ehemals vertraute Umgebung nach dem Krieg als eine Welt kryptischer Zeichen und zusammenhangloser Handlungsvorgänge entgegentritt, deren Sinn sie nicht (mehr) entschlüsseln können. Männer durchfrieren jetzt das Gefühl existentieller Geworfenheit, wie es Martin Heidegger einige Jahre zuvor als eine Grundbedingung des Menschseins beschrieben hatte; sie stolpern durch nachtgeschwärzte, sich feindselig über ihre Köpfe neigende Häuserzeilen, besessen von der Suche nach ihrer Herkunft. Denn sie wissen nicht, wer sie sind. Zuweilen ist es nur – wie etwa in Irving Reis’ Film "Crack-Up" – das Narkotikum "Pentothal", welches das Bewusstsein der Männer von allen belastenden Gedanken befreit; meist jedoch ist es eine schwere neurotische Amnesie, die ihren wohltuenden weissen Schleier des Vergessens über die traumatischen Erfahrungen der Heimkehrer ausbreitet.

Der Film noir ist bald nach seinem verzögerten Erfolg in den frühen 50er Jahren wieder von den Leinwänden verschwunden; die Männer ohne Gedächtnis jedoch sind geblieben, in verschiedenen Genre-Konstellationen und auf dem Hintergrund wechselnder gesellschaftlicher Erschütterungen. Nachdem die Schwarze Serie mit Filmen wie "Angel Heart" ein Comeback als Neo Noir feierte, der die Wurzeln der Amnesien einfach um einen Krieg weiter, nach Vietnam, verlagert hatte, ist es der Science-Fiction-Film der 80er und 90er Jahre, der dem Gedächtnis im Kontext eines zunehmend von Speichermedien dominierten Alltags eine neue Funktion verleiht. Filme wie "Total Recall", "Dark City" oder "Johnny Mnemonic" zeichnen eine von den humanoiden Ausgeburten der Technik verstellte Welt, in der das Gedächtnis zum einzig sicheren Distinktionsmerkmal zwischen Mensch und Maschine wird: Es ist die Fähigkeit des Erinnerns in all ihren unvorhersehbaren Verknüpfungen, in der Fülle ihrer emotionalen Schattierungen, die den Menschen zum Menschen macht und ihn von seinen androiden Doppelgängern unterscheidet, deren blutleere Gehirne nur über die kalte Wiedergabe gespeicherter Daten verfügen. Steven Spielberg hat diesem Trend zur mnemotischen Wesensbestimmung des Humanen in seinem letzten Film "A.I." eine leichte Wendung verpasst, indem er – an die Diskussionen der letzten Jahrhundertwende anknüpfend – wieder die Psyche und die Fähigkeit des Empfindens zur menschlichen Qualität Nummer eins erhob.

Und heute, am Rande eines neuen Jahrtausends, scheinen die Gedächtnislücken wie frische Wunden von neuem aufzuplatzen. Zumindest beschäftigen sich momentan auffällig viele Filme mit Gedächtnisschwächen, und wieder sind es ausschliesslich Männer, deren Ich ins Vergessen sinkt. In Jean-Pierre Limosins "Novo" verliert ein junger Mann durch einen Unfall sein Langzeitgedächtnis und kann sich nur an Dinge erinnern, die kürzer als zehn Minuten zurückliegen. Auch die beiden Protagonisten in Doug Limans Ludlum-Verfilmung "The Bourne Identity" und Aki Kaurismäkis "The Man Without a Past" verlieren ihre Identität nach einem physischen Schock: Matt Damon alias Specialagent Jason Bourne kennt sich selbst nicht wieder, nachdem er mit zwei Kugeln im Rücken halbtot aus dem Meer gezogen wird; und der Schweisser M in Kaurismäkis minimalistischem Kleinod verliert durch einen Schlag auf den Hinterkopf sein gesamtes bisheriges Leben – doch nur, um im Containerpark einer Arbeitslosenkolonie eine biographielose, damit aber umso glücklichere Existenz zu finden.

David Cronenbergs neustes Werk hingegen fährt mit schwereren, psychologischen Geschützen auf: "Spider" erzählt die Geschichte eines verstörten Mannes, der nach einem langjährigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik ins Leben entlassen wird. In einer schäbigen Pension im Londoner East End, der Heimat seiner Kindertage, wird er bald schon von düsteren Erinnerungen an eine unglückliche Kindheit heimgesucht: Von streitenden Eltern und einem kaltherzigen Vater, der die Mutter eines Nachts mit einer banalen Gartenschaufel ermordet, um sie durch eine wasserstoffbleiche Prostituierte zu ersetzen. Erst die letzten Bilder jedoch enttarnen die Stück für Stück zurückgeholte Kindheitsgeschichte als ein Lügenkonstrukt, das sorgfältig um ein Trauma ganz anderer Art herumgebaut wurde. Wie der Unheld in Christopher Nolans Film "Memento", der letztes Jahr die Kinosäle und die Partygespräche durchbebte, leidet Cronenbergs Protagonist Spider letztlich nicht am Trauma eines beobachteten Mordes, sondern vielmehr an den Wahnvorstellungen, die sich schützend um den eigentlichen Kern, einen psychischen Schock ganz anderer Art, legen: Es sind falsche Erinnerungen, die Spider und der Film uns so kugelsicher wie bildgewaltig vorführen, und sie haben einen schaudernd angenehmen Effekt: Sie machen aus einem Täter ein Opfer.

Wenn nun also die Amnesien im Kino ihren blinden Fleck immer auch in den historisch-sozialen Zeichen einer Zeit zu finden hätten; wenn die Persönlichkeitsstörungen der Série Noire und des Neo Noir aus den Trümmern zweier Kriege erstanden wären; und wenn eine bestimmte Traditionslinie von Sci-Fi-Filmen in ihrem Innern jene diskursiven Umwälzungen verhandeln würde, die der Eroberungszug der Computertechnologie mit sich gebracht hat – woher kommen dann all die Männer ohne Gedächtnis, die gegenwärtig über unsere Leinwände geistern? Kann es sein, wie Elisabeth Bronfen unlängst an einer Tagung über die "Krisenfigur Mann" vermutete, dass die Zeit ökonomischer, familiärer und politischer Unsicherheiten reif geworden ist für eine "männliche Hysterie", die in einer radikalen Zersetzung sämtlicher überlieferter Identitätsmuster ihren Grund hätte? Oder wäre vielleicht einer westlich-männlichen Kollektivpsyche die Last der privaten, sozialen, geschäftlichen oder politischen Fehlkalkulationen und ihrer Verantwortlichkeiten so gross geworden, dass die Sehnsucht nach unschuldigen Erinnerungen verlangt? Nach einer Identität, die sich in der unantastbaren Sicherheit des Opferdaseins wiegen könnte? Nolans und Cronenbergs Werke jedenfalls haken sich in unheimlicher Koinzidenz in jene Diskussionen ein, die der "Fall Wilkomirski" in den letzten Jahren aufgeschwemmt hatte: Beide erinnern an die sozialpsychologischen Untersuchungen zum "false-memory-syndrom", in deren Zentrum das zwanghafte Verlangen nach einer Identität als Opfer steht. Und wie Wilkomirskis fiktive KZ-Erinnerungen führen auch "Memento" und "Spider" in unheimlicher Weise vor, wie ein produktiv fehlerhaftes Gedächtnis nicht nur von Schuld und Verantwortung befreit, sondern darüber hinaus noch bestürzend prägnante, ja wirklich unvergessliche Chiffren des Schreckens hervorbringen kann.


Alexandra Stäheli

"The Bourne Identity", "The Man Without a Past" und "Spider" sind in diesen Wochen in den Schweizer Kinos zu sehen.