Georg Christoph Tholen

Metaphorologie und Topologie.
Zum hybriden Status von Zeit, Raum und Medialität


('Thesen' zum kategorialen Horizont des 'Wilderns' in der zeitgenössischen Theoriebildung)

Fokus meiner kulturwissenschaftlichen Forschung seit 1985 ist der Versuch, die raumzeitlichen Zäsuren oder Konturen unserer Gegenwart bzw. ihrer Archäologie zu begreifen. Hierbei zeigte sich, dass im Anschluss an die Kritische Theorie das historische Apriori der heutigen Macht- und Wissensbeziehungen und ihrer diskursprägenden Phantasmatik vielleicht am besten mittels einer nomadischen Verbindung ("Wildern") bzw. Verkreuzung des kategorialen Horizonts der Diskursanalyse (Foucault), der Dekonstruktion (Derrida) und der Metapsychologie (Freud, Lacan) situieren lässt.
Ohne Überschreitung des an der Metaphysik der Präsenz, der Unmittelbarkeit und des Lebens orientierten Modells der Zeitdiagnostik lässt sich der atopische, d.h. zeiträumlich "unbehauste" Ort der immer schon mediatisierten Überschneidungen (Kon-Figurationen) des Wissens und der Wahrnehmung (erweitertes Aisthesis-Konzept) nicht angemessen formulieren. Folglich muss in kategorialer Hinsicht der Chiasmus zwischen Anwesenheit und Abwesenheit so formuliert werden, dass die unvordenkliche Alterität oder Atopie von Raum, Zeit und Medialität den Vorbehalt bzw. Vorenthalt des Unverfügbaren (epoché) bewahrt. Ohne diesen offenen Zeitraum würde die Archäologie der Dispositive der Gegenwart zu einer materialistisch oder idealistisch abgeschlossenen Stufenfolge von Evolutionen (des Wissens, der Kultur, der Gesellschaft, der Ästhetiken usw.).

Hier einige thesenhafte Skizzen zum Begriff der Zeit, des Raums und des Mediums.

a) Zeit

"Alles fließt: auch dieser Gedanke, und bringt er nicht alles wieder zum Stehen?" (Paul Celan)

"Konnte nicht immer schon die Zeit, als Folgeschema von Wirkungen, ebenso von Befreiung träumen wie von ausweglosen Todeswünschen besetzt werden, so wie der Raum, als Schema des Koexistenten, vom Berg der Todesstarre?"(Hans-Dieter Bahr)

Gründet die Zeit im Subjekt oder dieses in jener? Diese als Widerstreit zwischen subjektiver und objektiver Zeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern weithin unversöhnlich gebliebene Frage hat sich im zeitgenössischen Denken verschoben. Problematisch geworden ist mit der Frage nach moderner Subjektivität nicht nur dessen konstitutive Begründung, sondern die zeiträumliche Metaphorik der Denkfigur des Grundes oder des Fundaments selbst. Denn deren räumliches Schema verbirgt das zeitliche, auf dem es beruht. Was immer auch wem vorausliegen mag – die Zeit dem Subjekt oder das Subjekt der Zeit – es unterstellt in seiner Positionierung eine Präsenz des Raums, die bereits als solche da ist. Sie ist immer schon unterlegt und wie ein unverrückbarer Rahmen vorgegeben. Sie ist die Anwesenheit, die gleichsam immer schon Platz genommen hat. Dieses zeitlose Privileg der Gegenwart hat in der Philosophie der Zeit sowie in dem eingangs erwähnten Streit zwischen den Wissenschaften verschiedene Namen erhalten. Die Vorstellung der Allgegenwart Gottes, in der sich nach Augustinus Ewigkeit und, von ihr gestiftet, Augenblick berühren, aber auch die der Zeitfolge von endlos abzählbaren Jetzt-Punkten, die seit Aristoteles der ablaufenden Bewegung Maß und Halt gibt, gelten als der beständige Untergrund des Unbeständigen.
Daß niemand mehr Zeit habe, und - schlimmer noch - das menschliche Bild von Zeit zerfalle, ist eine alltäglich vertraute Aussage. Ihre zumeist mit der Einführung neuer Techniken und Medien einhergehende Verlustrhetorik wiederholt sich nicht nur in einem bis heute kaum veränderten stereotypen Gestus (bedenkt man zum Beispiel die kulturkritischen Klagen über die beschleunigten Bilder angesichts der Erfindung der Kinematographie um 1900). Vielmehr beharrt diese anthropologisch-lebensphilosophische Kritik der Zeit unbemerkt auf einem Standpunkt der absoluten Verfügung über die Zeit, den sie der als Choc erlebten technischen Zeit nur zueignet, um den verloren geglaubten eigenmächtigen Anspruch auf die Herrschaft über die Zeit einfordern zu können: Die melancholische Zeitdiagnostik imaginiert ein verlorenes Objekt und hält zugleich diesen halluzinierten Verlust als ständigen Verlust fest. Die Literatur ist reich an kulturhistorischen Belegen für diese Introjektion, ihr phantasmatischer Kern jedoch - die unversöhnliche Gegnerschaft von zyklischer versus linearer Zeit - wurde bisher unterbelichtet: nämlich das Schema der Zeit als einer selbstgegebenen Gegenwart bzw. als Selbstgegenwart der Zeit.
Dieser im Begriff der Zeit eingeschriebene kulturkritische Klage Niemand habe (mehr) Zeit möchte ich die These - Niemand hat Zeit - gegenüberstellen. Einen solchen gegenstrebigen Impetus im bisherigen Zeit-Denken hat mit dekonstruktiver Genauigkeit Jacques Derrida an der paradoxalen, d.h. beide Lesarten des Entzugs der Zeit verkreuzenden Lesbarkeit des Hamlet-Ausspruchs Die Zeit ist aus den Fugen erläutert: der unverfügbare Entzug der Zeit erlaubt es erst, ohne melancholische Rückversicherung das Nichtzusammenfallen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu bedenken. Es geht der zeitgenössischen Philosophie um eine Resistenz gegen alle Programme einer utopischen bzw. vollendbaren Erfüllung der Zukunft als einer bloß aufgeschobenen Gegenwart. Es geht um den unvordenklichen Riß in der Zeit.

b) Raum

Der Ort des Raums ...

Bereits diese erste Bestimmung unterstellt, es gäbe einen Ort (also etwas Räumliches), der dem Raum, so wie wir ihn in seiner Vorgegebenheit zu denken gewohnt sind, vorausgeht. Und in der Tat ist in den letzten Jahren aufgrund der Irritation der "Cybermoderne" von konfligierenden Räumen die Rede: unterschieden werden reale, virtuelle und imaginäre Räume. Gibt es Differenzen im "räumlichen" Denken? Gibt es einen "offenen" Raum, der nicht deckungsgleich ist mit dem uns allzu vertrauten "leeren" Raum, den wir auch den homogenen, "lückenlosen" Raum nennen.
Der offene Raum bekundet sich als Einschnitt in den räumlichen Vorstellungen - gleichsam wider Willen: er verweist auf eine Topologie des Abgründigen (Heidegger, Derrida, Bahr, Nancy u.a.) die nicht nur für die Sphäre des Ästhetischen sondern auch für die Spurensicherung der Wissenschaftsgeschichte wichtig wird. Man spricht von einer neuen Sensibilität für die Historizität kultureller Symbolräume. Denn diese lassen sich nicht im "abstrakten’ Raum einer linearen Begriffs- und Ideengeschichte verorten, sondern verweisen auf Brüche und Zäsuren in der Wissenschaftsentwicklung selbst (für die Biologie z.B. vgl. Hans-Jörg Rheinberger u.a.: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997)
Der "Raum" hat zur Zeit in der Kulturkritik der Gegenwart (Baudrillard, Postman, Flusser, de Kerckhove, Virilio, Kamper, Weibel u.v.a.) Konjunktur: es kursiert wohl kaum eine Schrift zu den neuen Medien, die nicht von seinem Verlust handelt: der Raum zöge sich wegen des Siegeszugs der digitalen Weltvernetzung zusammen und verschwände. Verwechselt dieses kulturkritische Schema nicht Kategorie und Erlebnis? Übersieht ihr bipolare Entgegensetzung von Realem und Hyperrealem nicht den Zirkelschluß ihrer eigenen Verlustrhetorik? Meine These lautet: Keine "Tele-Vision" kann das Reale des Raums "ablösen" oder "auflösen". Denn das Reale entzieht sich per definitionem den Bildern, die wir uns von ihm machen. Es bleibt unterschieden von seinem Platz, und alle Bilder oder Vorstellungen des Raums sind stets verschiebbare, atopische Aus-Schnitte, d.h.: unvollständige Rahmen-Setzungen.

c) Medium

Metaphorologie der Medien

Streifzüge durch die Landschaft der zeitgenössischen Medientheorien bestätigen: Kontrovers wird diskutiert, was die Medien als Medien ausmacht und somit erst eine "eigenständige" Medienwissenschaft begründen könnte. Die Unsicherheit, ob die - alten wie neuen – Medien unsere Welterfahrung herstellen, einrahmen, oder gar ersetzen, oder nur nützliche Mittel der Kommunikation sind, markiert die Grundlagendebatte seit Mitte der 80er Jahre.
Bei aller Vielfalt der Theorien, die die Evolution der Medien in den letzten Jahren zum Angelpunkt ihrer Reflexion machen, fällt auf, dass die Frage nach der epistemischen Eigensinnigkeit der Medien mit der Globalisierung des Computers als Medium virulent wurde. Es reicht wegen der multi- oder intermedialen Durchlässigkeit des digitalen Codes nicht mehr aus, nur Kommunikationswissenschaft, Publizistik, Fernseh-, Theater- und Filmwissenschaft usw. zu betreiben. Und da - spätestens mit dem Internet - die Unterscheidung zwischen (manipulativen) Massenmedien und (dialogischen) Einzelmedien, zwischen Passivität und Interaktivität, brüchig wird, ist die Frage nach der Medialität der Medien kein Anathema mehr.
Doch eben diese "permissive" Sphäre des Medienverbunds geht mit einer wuchernden Metaphorik und Unschärfe in den Begriffen einher:Ist das Medium Werkzeug oder Instrument der Erweiterung (oder Amputation) der menschlichen Sinne (McLuhan)? Oder ist es ein flüchtiges Interface der profitablen Unterhaltung, hinter der sich der Geist der Rechen-Maschine verbirgt, der des Geistes des Menschen eigentlich nicht mehr bedarf (Kittler)? Vielleicht ist es gerade dieser Widerstreit zwischen "eigentlichen" und "uneigentlichen" (zwischen anthropologischen und instrumentellen Definitionen), der im Übertragungsgeschehen elektronischer Medien zur Disposition steht: Medien übertragen Botschaften, Sichtweisen, Ästhetiken, aber sind – als Übertragung – nicht die Botschaft selbst. Die Übertragung bzw. Metapher passiert als Sinnvorbehalt und Sinnaufschub. Medium ist das, was den Sinnhorizont verschiebt und unterbricht.