Ole Frahm / Friedrich Tietjen



Die fotografische Kontrolle der Stadt


In seiner Kunst des Handelns berichtet Michel de Certeau von einer Erfahrung, die seit dem 11. September 2001 so nicht mehr zu machen ist: Er beschreibt, wie er von der Aussichtsplattform im 110. Stock des World Trade Centers auf die Metropole New York blickt und dort "eine Dünung aus Vertikalen" sieht, die sich für ihn als "Textgewebe", als "die größten Schriftzeichen der Welt" darstellen.1 In der räumlichen Distanz erscheint die Stadt als eine auch der Zeitlichkeit entzogene Einheit: Was sich dort bewegt, bewegt sich an der Grenze des Sichtbaren. Weil im Tiefenraum sich Distanzen nur noch schwer abschätzen lassen, wird die Ferne zur Fläche, auf der die Stadt buchstäblich erstarrt. Von allen "physischen, geistigen oder politischen Verunreinigungen"2 befreit erscheint sie sauber, vereinheitlicht und damit durchschaubar: sie wird darüber überhaupt erst eine Stadt und damit zum Subjekt, universell und anonym.3

Angesichts dieser visuellen Erfahrung fragt sich de Certeau, "woher die Lust kommt, diesen maßlosesten aller menschlichen Texte zu 'überschauen', zu überragen und in Gänze aufzufassen."4 Der panoramatische Blick auf die Stadt ist zugleich eine panoptische Projektion, die sich "schon seit langem darum [bemüht], die Widersprüche, die sich aus der städtischen Zusammenballung ergeben, zu überwinden"5. Schon seit langem: Auf die Macht des Überblicks setzte der Teufel, als er Jesus versuchte,6 Feld- und Burgherren verschafften ihn sich, um ihre Heere gegeneinander zu führen, Seefahrer, um Land zu entdecken, Kartographen schliesslich sorgten für die abbildliche Abstraktion und hielten Entfernungen und relative Lage auch der Städte zueinander auf Globen und zweidimensionalen Karten fest. Signum und Privileg der Mächtigen und Arbeitserfahrung weniger, wurde er später zum feiertäglichen Vergnügen7; mit der Industrialisierung schließlich und der Formierung der - vor allem städtisch verankerten - Bourgeoisie als politischer Klasse wird das Bedürfnis allgemein, sich die Stadt und ihre Umgebung von einem erhöhten Punkt anzuschauen: "Kein Reisender läßt [...] im 19. Jahrhundert die Gelegenheit aus, auf einen hohen Turm oder einen Berg zu steigen, um das Panorama [...] einer Stadt von dort zu geniessen [...] das ruhige Gesamtbild der Stadt".8 In der Distanz zum urbanen Leben, "dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen"9, zugleich aber in dessen Nähe oder gar Mitte verspricht der panoramatische Blick als panoptische Fiktion Kontrolle über die Stadt und das, was in ihr geschieht.10

Diese Kontrolle aber, so argumentiert Michel de Certeau, ist begrenzt. Sie erfaßt nicht alles: Dem "Wille[n], die Stadt zu sehen"11, entgeht die "Fremdheit des Alltäglichen, deren Oberfläche eine vorgeschobene Grenze ist, ein Rand, der sich auf dem Hintergrund des Sichtbaren abzeichnet"12. Das Überblicken gerät zum Übersehen; das über den Dingen schwebende Auge ist blind für die kleinen Veränderungen und Bewegungen in Zeit und Raum, für die Zufälle flüchtiger Begegnungen, unbequemer Umwege, glücklicher Fügungen, kurz: für die unaufhebbaren Spannungen, die der Urbanität inhärent sind und für eine sich stets erneuernde Fremdheit sorgen. Die Stadt erscheint darin unrein, diskontinuierlich, vielfältig und unkontrollierbar. Sie artikuliert sich in der "räumlichen Praxis" der Fußgänger, in deren mehrdeutiger "Rhetorik des Gehens".13 Diese Praxis sei weder sichtbar noch lesbar, sie könne weder "in Bildern festgehalten, [...] noch in einem Text umschrieben" werden,14 weil sie selbst aufgrund ihrer Bewegung den "städtischen Text" schreibt: "vielfältige Geschichten ohne Autor oder Zuschauer".15 Dem lesenden Sehen des panoptischen Blicks ist so das schreibende Gehen der Passanten entgegengesetzt.

Selbst Teil und seit ihren Anfängen von den Gegebenheiten der Stadt geprägt ist die Fotografie deren Spannungen ebenso unterworfen und damit den von de Certeau beschriebenen widersprüchlichen Wahrnehmungsweisen. Tatsächlich gehört sie beiden an, sind ihr seit ihren Anfängen panoptische Elemente ebenso eigen wie die Kontingenzen der Straße: Der Bildgehalt etwa ist niemals völlig dem Zufall entzogen, doch andererseits gestattet die nachträgliche Betrachtung des unbewegten Bildes die eingehende Inspektion noch jener Details, die dem Auge des Fotografen im Moment der Aufnahme entgingen. Ihr unverändert gültiges Emblem findet diese Ambivalenz in einer der frühesten bekannten Fotografien: Als Louis Jacques Mandé Daguerre um 1838 seine Kamera auf den Pariser Boulevard du Temple richtete, gewann er zwar keinen panoptischen Blick auf die Stadt, wohl aber eine detaillierte Ansicht der Strasse, deren Menschenleere an hellichtem Tag befremdlich wirkt; einzig die Silhouette eines einzelnen Mannes verliert sich auf dem Trottoir. Anschaulicher lässt sich das ambivalente Verhältnis der Fotografie zur Stadt kaum beschreiben: Genauer als noch der sorgfältigste Zeichner erfasst sie gleichmäßig alles ihr Sichtbare – um den Preis, dass ihr zuverlässig anderes unsichtbar bleibt. Dies andere wird stets wieder neu definiert.


Medien des 19. Jahrhunderts: Panorama und Fotografie

Und noch in einem weiteren Sinne ist die Aufnahme emblematisch: Beispielhaft zeigt sie, wie der Ort der Kamera und mit ihr der des Fotografen verschwindet, um im Bild selbst wieder aufzuscheinen. Ende der 1830er Jahre verdiente Daguerre sein Geld mit einem öffentlich zugänglichen Diorama, einer Spielart des Panoramas; aus einem der oberen Stockwerke des Gebäudes entstand die Aufnahme. Vom Zimmer selbst ist nichts zu sehen, nicht einmal der Rahmen eines Fensters. Der erhöhte Standort ebenso wie die Fassung des Tiefenraumes durch Architektur, deren Elemente parallel zu den Bildgrenzen fluchten, wurden nicht nur vorbildlich für den fotografischen Blick auf die Straße der Stadt16 – beides referierte auch auf die Gemälde und ihre Inszenierung in Daguerres Diorama.17

"Das Panorama [war] die erste Kunstform, die adäquat und ausschließlich auf die optischen Bedürfnisse einer anonymen Großstadtmasse antwortete".18 Kunstvoll gemalte Panoramen verschiedener Motive in eigens errichteten Gebäuden ziehen seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung der Städte in ihren Bann. Das Bedürfnis "nach einer visuellen Bemächtigung der Welt"19 wird durch die Illusion eines alles umfassenden Blicks erfüllt; Walter Benjamin notiert: “Das Panoptikum eine Erscheinung des Gesamtkunstwerks. Der Universalismus des 19. Jahrhunderts hat im Panoptikum sein Denkmal. Pan-Optikum: nicht nur, dass man alles sieht; man sieht es auf alle Weise.”20 Anders als die üblichen kleinformatigen Gemälde und Grafiken ermöglicht das Panorama, wo nicht den Körper, so doch den Blick durch ferne Landschaften, an romantischen Orten, inmitten wilder Schlachten unbeteiligt zu bewegen. Weil das faux terrain die Übergänge zwischen Malerei und Raum verschwimmen lässt, täuscht der visuell zu erkundende Raum Tiefe vor. Indem die Plattform des Panoramas die Betrachter vom Bild distanziert, erhebt sie diese auf einen privilegierten Standpunkt, von dem aus sie jedes Detail der überschauten Welt überprüfend ihre Kennerschaft ausbilden können.21 Die Städtebewohner konnten ohne störende Umwelteinflüsse einen idealen Blick auf ihre eigene und manche fremde Stadt und Landschaft erfahren.

Die Fotografie bedient ebenfalls diese visuellen Bedürfnisse, die die Bevölkerung einer Stadt dieser gegenüber hat. Anders als das Panorama aber sorgt sie weniger für einen umfassenden Überblick, sondern gibt vielmehr begrenzte Ausschnitte der Stadt als kleinformatige, gerahmte Oberflächen zu sehen. Ihre Fragmentierung entspricht dabei der sich im Zuge der Industrialisierung ändernden Verfasstheit von Stadt: Vorstädte und Dörfer wurden in das Stadtgebiet eingeschmolzen, das Stadtzentrum als definierender Ort verlor an Bedeutung; statt dessen bestimmten Stadtteile, Nachbarschaften und der Arbeitsplatz das Leben der Bewohner. Es nimmt nicht Wunder, dass gerade sie zu Beginn vor allem das fotografische Portrait geschätzt haben – als Versicherung eigener, unverwechselbarer Individualität, die sich als Carte de Visite vorzeigen ließ und gleichzeitig erlaubte, den eigenen sozialen Stand wahlweise zu betonen oder zu verschleiern. Die für die Massenproduktion notwendigen Rationalisierungen wie stereotype Hintergründe und Posen liefen dem Bestreben allerdings ebenso nachhaltig entgegen wie die staatlich verordnete Fahndungs- und Passfotografie, die aus der Individualität allein die Identität destillierte. Hier wie auch bei den ebenfalls beliebten Abbildungen von Prachtstraßen und Stadtansichten konturiert das Foto jedes von der manuellen Abbildung vernachlässigte Detail in einer bis dahin nicht gekannten Genauigkeit. Um diese goutieren zu können mußte kein Eintritt bezahlt werden – Händler und professionelle Fotografen boten ihre Aufnahmen in den Strassen an, wo sie gemacht worden waren. Anders als im Panorama ermöglichte der Kauf einer Fotografie, den Blick vom Bild im wörtlichen Sinne dauerhaften Besitz ergreifen zu lassen.

Dabei korrespondiert sie mit der grundsätzlichen Warenförmigkeit der abgebildeten Welt. Der Bourgeoisie sind "die wohlfeilen Preise ihrer Waren ... die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt [...]. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Worte, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde."22 Nach ihrem eigenen Bilde: Dieses zu kommunizieren ist die Fotografie einer der wichtigsten Agenten. Schnell, billig und spätestens mit der Kodak-Kamera – "You press the button – we do the rest" - allgemein verfügbar geworden, vor allem aber anwendbar auf alles Sichtbare, gewinnt sie eine potentielle, alles erfassende Totalität, die der des Kapitalismus gleicht. Hatte das Panorama zuvor für eine allgemeine Kartierung der Welt gesorgt, erlaubte die Fotografie in ihrer Betonung der physischen Details das Aufgenommene zu vergleichen und zu begutachten – um so mehr, als das Bild technisch und damit ohne interpretierenden Einfluss der Hand eines Zeichners zustandekam.

Im Bunde mit der vermeintlichen Unsichtbarkeit des Apparates verschaffte dies der Fotografie den Ruf, ihren Motiven gegenüber neutral zu bleiben. Und obwohl diese Neutralität immer wieder aus guten Gründen in Abrede gestellt wird, hält sich keiner ihrer Mythen hartnäckiger: Auf den Glauben an die Wahrheit des fotografischen Bildes bauen Tag um Tag Zeitungen, Ansichtskarten und die Werbung.

In dem historischen Moment, als die Städte so groß geworden sind, dass sie den Gesichtskreis des Panoramas sprengen, kam ihre Macht an eine Grenze; einst populäres Massenmedium fristen die Panoramen heute eine Nischenexistenz als Kuriosität. In der Beliebtheit erhöhter Aussichtspunkte bei Stadt-Touristen äussert sich die Hoffnung des panoptischen Blickes. Sie kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die visuelle Kontrolle des urbanen Raums im 20. Jahrhundert maßgeblich durch die Fotografie im weitesten Sinne gewährleistet wurde.


Wahrnehmungen der Stadt: Album und Ansichtskarte

Die Städte sind "die ersten Orte, an denen sich irritierte Wahrnehmende äußern"23. Diese Irritation entsteht durch die Zerstreuung des Blicks angesichts der vielen optischen Sensationen in der Stadt, angesichts der Bewegung durch die Stadt, bei der ständig darauf zu achten ist, anderen Passanten ebenso auszuweichen wie den Gefahren des Verkehrs. Deshalb gelten die Menschen in der Stadt als "Augenwesen, die sich durch eine Menge von wahrnehmbaren Einzelheiten bewegen; diese überfordern die menschliche Auffassungsgabe völlig. Die Einzelheiten sind abgegrenzt, pointiert und stehen in keiner kontinuierlichen Relation mit anderen."24 Fotografie ist das dazu analoge Medium. Der Fotoapparat veräußerlichte die Funktion des Wahrnehmungsapparats, abgegrenzte Einzelheiten zu erinnern. Indem er heterogene Momente erfasst, ermöglichen seine Fotografien es, die Einzelheiten der Stadt wenigstens retrospektiv voneinander zu isolieren. Der Zufall in der Stadt, dem James Joyce im Ulysses seine literarische Gestalt gab, wird durch die Fotografie schon im 19. Jahrhundert als bedeutendes Charakteristikum urbanen Lebens sichtbar. Ständige Zufälle aber machen die Stadterfahrung unvorhersehbar, unkontrollierbar – unheimlich. Diese Unheimlichkeit der Fotografie, ihr Vermögen, das "Lebendige als Totes"25 zu zeigen war stets wahrgenommen worden. Der medienhistorisch bedeutende Glaube an die Gespensterfotografie gibt davon ein lebhaftes Zeugnis.26

Zugleich aber war der fotografische Apparat ein Instrument, um die Unheimlichkeit der Stadt, ihre Diskontinuitäten zu bannen: Aufgenommen werden die Momente als vergangene sichtbar. Die Melancholie der Fotografie als Trauer um den Verlust dieser Momente ist in Bezug auf die Wahrnehmung der Stadt weniger bedeutsam als die Genugtuung, dass noch die diskontinuierliche Reihe eine Reihe bildet, die zudem durch Perspektiv- und Motivwahl, durch die Aufnahme- und Drucktechnik einheitlicher ist als die belichteten Momente. Weder gefährdet durch die eigene Bewegung in der Stadt noch ihrer Flut von Sinnesreizen ausgesetzt, lässt sich der zerstreute Blick in Fotoalben blätternd einüben, deren erstes in den 1850er Jahren entstanden27. Anders als im Panorama bewegt sich dieser Blick nicht von nur einem definierten Stadtpunkt aus, sondern muss mit jedem Abzug von Neuem die Perspektive wechseln – und ist damit der Bewegung in der Stadt viel näher.

Die Ansichtskarte entwickelte sich als Massenmedium in den 1870er Jahren. Nicht selten imitierte sie den Blick über die Stadt, den das Panorama mittels Architektur und Malerei herstellte – offenbar gut genug, um dieses mit anderen Medien wie dem Film im Bunde zu verdrängen. Als fotografische Wahrnehmungsweise der Stadt war sie von Beginn an angelegt: "Daguerreotypische 'Ansichten der Hauptstädte' [...] sind der Absicht nach bereits Ansichtskarten".28 Noch bevor die erste Karte produziert worden war, wurde ihr visuelles Terrain abgesteckt: Ließ die Aufnahme des Boulevard du Temple in der perspektivischen Fluchtung der Architektur noch Erdenschwere fühlen, so löste sich Nadar bereits Ende der 1850er Jahre davon ab, als er Paris vom Ballon aus zu fotografieren begann. Ein Häusermeer ohne Horizont zeigend sind die Bilder weit davon entfernt, den vereinheitlichenden Blick des Panoramas zu bedienen; sie versprechen eine neue, eine fragmentierte Übersicht. Allerdings trieben Nadar nicht nur sein visuelles und politisches Interesse zur Ballonfahrt, sondern auch der Werbeeffekt für sein eigenes Atelier.29 "Nadar erhebt die Fotografie zur Kunst" betitelte Honoré Daumier ironisch eine Karikatur, die den Fotografen über der Stadt schwebend zeigt, auf deren Dächern der Schriftzug "Photographie" zu lesen ist. Die zur Schrift gewordene Stadt läßt sich analog zu den viel späteren Beobachtungen de Certaus lesen; wichtiger aber ist Daumiers Reflexion, dass Fotografie schon in den ersten Tagen für sich selber wirbt, indem sie in den von ihr produzierten Ansichten selbst immer sichtbar ist: Die aus der Höhe abgelichteten Häuser werben für die Fotografie und den Fotografen. Die visuelle Erschließung des urbanen Raums ist durch diese Selbstreferentialität möglich geworden, deren Emblem die Ansichtskarte darstellt.

Auf Nadars Fotografien werden die Häuser nicht als bewohnte Orte mit heterogenen Geschichten bedeutsam, sondern nur als fotografiertes Ensemble – ein Motiv, das sich seitdem bei Ansichtskarten wiederfindet. Aus der Luft aufgenommen reduzieren sie die wenig übersichtliche Großstadt auf wenige herausragende Sehenswürdigkeiten, oft genug erhöhte Gebäude wie z.B. der Eiffelturm30 oder ehemals das World Trade Center. Nur konsequent ist, dass die Ansichten von diesen erhöhten Punkten aus ebenfalls für Postkarten verwertet werden. Eine dritte Motivgruppe schließlich bilden die Aufnahmen von repräsentativen Strassen und Plätze. Schon als einzelne weist jede dieser Ansichten darauf hin, dass die moderne Großstadt im panoramatischen Rundbild nicht mehr abbildbar ist, und mehr noch, wenn mehrere auf einer einzigen Karte zusammengefasst werden. Der Blick, den die Ansichtskarte den Besuchern und mit ihnen den Daheimgebliebenen von der Stadt gibt, ist nicht panoptisch, ihr Bild distanziert gleichwohl die Besucher von der Stadt: Sie erscheint zeitlos und wenig interessiert am Leben der Stadt, seinen Widersprüchen und Verunreinigungen.

Fotoalbum und Ansichtskarte ermöglichen seit Beginn der Fotografie aber auch, die im Foto abgelichteten kunsthistorisch oder touristisch wichtigen Orte gar nicht zu besuchen: "Sehr bald machte man die Erfahrung, daß sich Statuen und Denkmäler nicht nur ungestört aufnehmen, sondern in den Aufnahmen auch ungestört betrachten lassen. Ungestört nämlich von der ihnen fremden Atmosphäre, der Umgebung, in der sie keinen angestammten Platz haben".31 Der industriellen Stadt sind ihre Monumente aus vergangenen Zeiten fremd. Album und Ansichtskarte helfen zu vermeiden, die Sehenswürdigkeiten in ihrer urbanen Umgebung anzuschauen. Die unheimliche Umgebung wird aus den – offenbar weniger unheimlichen – Fotografien verbannt. Doch gerade aufgrund dieser bannenden Verbannung können Fotografien unheimlich werden – gespenstisch leer.


Grenzen der Wahrnehmung: Gespenst und Moment

Die zeitlose Stadt bestimmt die ersten Fotografien von Straßenszenen. Weil die lange Belichtungszeit viele Bewegungen nicht erfassen konnte, waren die Straßen gespenstisch leer, nur gelegentlich bevölkert von schemenhaften verwischten Gestalten. Noch hat die Fotografie viele Geschwindigkeiten der Stadt nicht eingeholt – allein der Flaneur, der sich in aller Ruhe die Schuhe auf dem Boulevard de Temple putzen ließ, wird bildlich festgehalten. Fotografie auf die technisch erst später mögliche Momentaufnahme zu reduzieren, geht schlägt in jeder Hinsicht fehl: die Fotografie nimmt fast nie einen für das menschliche Auge wahrnehmbaren Moment auf, sondern sieht gelegentlich langsamer, heute meist schneller als dieses. Im Falle von Daguerres Aufnahme hält sie ein Bild fest, das zu seiner Zeit unsichtbar war, aber dem panoptischen Blick entgegenkam: Eine entleerte, nahezu zeitlose Stadt. Doch anders als die Zeitlosigkeit des distanzierten Panoramas sind die Daguerrotypien durch das Licht, den Schatten der Bäume, also den wie lange auch dauernden Moment der Aufnahme definiert. Dennoch darf Daguerres Aufnahme aufgrund ihrer Technik nicht als realistisches Bild der Stadt mißverstanden werden: Sie zeigt vielmehr, dass es kein realistisches Bild von der Stadt geben kann. Die heterogenen Bewegungen der Stadt, die sich ständig verändernden Konstellationen ihrer Bewohner sind nicht abbildbar. Insofern bestätigen die Daguerrotypien Michel de Certeaus These über das Gehen in der Stadt: Es ist durch kein Bild zu erfassen.

Insofern sie eine "neue Art des Sichtbarmachens"32 erzeugte, ist die Momentaufnahme keineswegs die 'angemessene' Aufnahme der Stadt, sondern ebenfalls gespenstisch, weil sie etwas zeigt, was dem menschlichen Auge zuvor verborgen war. Das "Optisch-Unbewußte", wie Walter Benjamin es nannte,33 das "objektive Sehen", auf das Laszlo Moholy-Nagy hoffte,34 nahm die Singularität jeder Zusammenballung von Passanten und Fahrzeugen auf, die sich im Foto - wenn auch nicht restlos - zur Komposition ordnen. Die Konstellationen ihrer Bewohner zueinander, singulär, ständig wechselnd und aktiviert durch die Straße als öffentlichen Raum – diese Konstellationen darzustellen ist kein Instrument geeigneter als die Kamera. Selbstverständlicher Bestandteil dieses öffentlichen Raumes geworden erlaubt sie verschiedene Umgangsweisen mit ihm und seinen irritierenden Unheimlichkeiten. Die Kräfte, die dabei das emanzipative Potential der Fotografie freilegen und den Genuss der Kontrolle in einen Genuss des Unheimlichen verwandeln können, waren in der Geschichte niemals überlegen. Gerade als Optisch-Unbewußtes hat die Fotografie diese Möglichkeit jedoch nie verloren.


Allgegenwart der Fotografie: Amateur und Videokamera

"Das öffentliche Leben wurde zu einer Sache des Beobachtens".35 Mit der Fotografie ist das Sehen, die Wahrnehmung des städtischen Raumes Veränderungen unterzogen worden, die in der künstlerischen wie fast jeder anderen fotografischen Praxis auch ihren Reflex finden. Sie setzt sich dabei gegen die vor allem touristische Amateuerfotografie ebenso ab wie gegen die Präsenz von Überwachungskameras.

Amateurfotografie ist ein Instrument, mit dem Individuen sich ihres Lebens und Alltags versichern können. Familienfeste werden aufgezeichnet, Geburten, Unfälle und Umzüge, vor allem jedoch Reisen. Die Fotografie erweist sich dabei als Archiv der Fotogeschichte: Allen Unterschieden zwischen dem Schnappschuss und der ungleich aufwendigeren Fotografie im 19. Jahrhundert zum Trotz finden sich insbesondere ikonografische Übereinstimmungen: Hier wie dort erscheint die Stadt als Panorama, konzentriert auf das, was vermeintlich typisch und damit erkennbar an ihr ist. War das Erregende der frühen Fotografie, dass solche Bilder überhaupt möglich waren, so besteht die Attraktion der touristischen Fotografie darin, die eigene Präsenz an einem fernen Ort und womöglich diese Fremdheit selbst belegen zu können. Verinnerlicht und vervielfältigt entfaltet sich der panoptische Genuss als individueller noch dann, wenn sich alle diese Bilder des Eiffelturms, des Stephansdoms und des World Trade Centers bis in die Details hinein gleichen.

Reguliert die Anwesenheit eines Amateurfotografen auf dem Familienfest das Verhalten der Feiernden, so beeinflussen Überwachungskameras die Bewegung im öffentlichen Raum umso stärker als unklar bleibt, was mit den Bildern geschieht: Gegenständlich sichtbar bleibt die Struktur der Kontrolle unsichtbar. Angelegt war dies bereits in Benthams Panopticon36: Auch hier ist das Verhältnis zwischen Überwacher und Überwachten asymetrisch, soll das Wissen um die Präsenz des ersteren das Wohlverhalten der letzteren erzwingen. Die Zerstörung des World Trade Center verdeutlicht auch den Umbruch von einem panoptischen Überblick, wie de Certau ihn beschrieb" hin zur dezentralen Überwachung, die der Komplexität des öffentlichen Raumes nachspürt: Allein am New Yorker Times Square hat sich die Anzahl der Überwachungskameras seit 1998 mehr als verdoppelt; ein nicht unerheblicher Teil der heute mehr als 250 teils privat, teils polizeilich betriebenen Kameras wurde nach dem 11. September 2001 angebracht.37 Dass trotz ihres zweifelhaften Nutzens gegen die Überwachung dort ebenso wenig Einwände artikuliert wurden wie in anderen Städten der USA und Europas, zeigt, wie verinnerlicht die Auffassung ist, dass es ein fotografisches Bild von der Stadt und ihren Bewohnern geben muss.

Wie nahe sich dabei Amateuerfotografie und Überwachungstechniken kommen, ließ sich der Ausstellung "here is new york. a democracy of photographs" in Berlin entnehmen: Fotografien des Anschlags auf das World Trade Center wurden von Bildern begleitet, die Amateure bei ihrem Urlaub in den Jahren davor von der Aussichtsplattform aus aufgenommen hatten. Als retteten diese stereotypen Fotografien den privaten Raum, wird durch sie die Imagination möglich, die panoptische Kontrolle des öffentlichen Raumes tangiere immer nur die anderen, nie aber einen selbst. Das Gefühl der Sicherheit, das aus der Amateurfotografie erwächst, stützt das Gefühl der Sicherheit, das als Argument für die Aufstellung der Überwachungskameras beschworen wird.

Alles Unkontrollierbare, das aufgrund seiner Unvorhersehbarkeit unheimlich werden könnte, sei es im privaten oder im öffentlichen Leben, wird so gebannt. Der Preis dieser Bannung ist der Verlust an Öffentlichkeit, an Urbanität. Dieser sich seit dem 11. September in einem ungeahnten Maße durchsetzenden Tendenz ist überzeugend nur im Medium selbst zu begegnen. Nicht die Allgegenwärtigkeit der Fotografie ist das Problem, sondern die Reduktion darin auf ihre panoptischen Möglichkeiten. Die Geschichte der Fotografie erinnert Beispiele, die eine solche Möglichkeit in ihrer ganzen Ambivalenz belegen. Weil die Fotografie die Kontrolle der Stadt ermöglicht hat, kann sie auch deren Grenzen sichtbar machen, ohne zu beanspruchen, jenseits dieser Sichtbarkeit zu dringen. Die Hoffnung auf eine visuelle Kontrolle kann sich auf der fotografischen Oberfläche als panoptische Projektion erweisen, indem diese selbst unheimlich wird. Gegen diese Kontrollierbarkeit Einspruch zu erheben, ist eine der Aufgaben künstlerischer Fotografie: Aus den Fugen gerät die Welt nicht aufgrund ihrer Unheimlichkeit, sondern durch die Versuche, das sich als stets irritierte Wahrnehmung des urbanen Raums artikulierende Unheimliche kontrollieren zu wollen.


1 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 179f.

2 Ebd., S. 183.

3 Ebd., S. 184.

4 Ebd., S. 180.

5 Ebd., S. 183. Vgl. zum Verhältnis von Panorama und dem Benthamschen Panopticon Stephan Oettermann: Das Panorama. Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt am Main 1980, S. 34ff.

6 Matthäus 4, 8-9

7 Kehre dich um, von diesen Höhen / Nach der Stadt zurückzusehen. / Aus dem hohlen finstren Tor / Dringt ein buntes Gewimmel hervor. / Jeder sonnt sich heute so gern. / Sie feiern die Auferstehung des Herrn, / Denn sie sind selber auferstanden, / Aus niedriger H<äuser dumpfen Gemächern, / Aus Handwerks- und Gewerbesbanden, / Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, / Aus der Straßen quetschender Enge, / Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht / Sind sie alle ans Licht gebracht.” Johann Wolfgang von Goethe: Faust I. Hamburger Ausgabe, Bd. 3, München 1998 S. 35f. Vgl. zu Goethe und dem Horizont Oettermann, S. 10ff.

8 Susanne Hauser: Der Blick auf die Stadt. Berlin 1990, S. 107f.

9 De Certeau, S.180

10 Diese Kontrolle macht sich auch umgekehrt bemerkbar: Nicht zufällig wurden an den höchsten Gebäuden, an Kirch-, Rathaus- und Fabriktürmen Uhren angebracht, die von vielen Stellen der Stadt aus sichtbar dafür sorgten, dass die in Zeiteinheiten gemessene Ware Arbeitskraft korrekt verhandelt wird.

11 Ebd., S. 181

12 Ebd., S. 182

13 Ebd.

14 Ebd., S. 196.

15 Ebd., S. 182.

16 Vgl. Marlene Schnelle-Schneyder: Photographie und Wahrnehmung. Marburg 1990, S. 58ff. Vgl. allgemeiner Timm Starl: Ein Blick auf die Straße. Berlin 1988, S. 3f., Zum Blick aus dem Fenster auf die Stadt Hans Brüggemann: Das andere Fenster. Einblicke in Häuser und Menschen. Frankfurt am Main 1988, S. 11.

17 Das Gebäude brannte übrigens 1839 ab; im selben Jahr gab Daguerre seine Erfindung bekannt. Zu Daguerres Diorama vgl. ausführlich Helmut und Alison Gernsheim: Daguerre. London 1956

18 Oettermann, S. 36.

19 Ulrike Hick: Geschichte der optischen Medien. München 1999, S. 236.

20 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Frankfurt 1991, S. 660.

21 Oettermann, S. 39. Vgl. ausserdem dazu auch Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In ders.: Gesammelte Schriften I. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 492

22 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. Berlin 1967, S. 17.

23 Hauser, S. 4.

24 Ebd. S. 18.

25 Timm Starl: Im Prisma des Fortschritts. Marburg 1991, S. 10. Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Frankfurt am Main 1989, bes. S. 17 und 23.

26 Vgl. Tom Gunning: Phantom Images and Modern Manifestations. Spirit Photographie, Magic Theater, Trick Films, and Photography's Uncanny. In: Patrice Petro (Hg.): Fugitive Images. From Photography to Video. Wisconsin 1995, S. 42-71. - Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren. Ausst.Kat. Mönchengladbach/Krems/Winterthur 1997.

27 Thomas Neumann: Sozialgeschichte der Photographie. Neuwied/Berlin 1966, S. 84.

28 Ebd. S. 43.

29 Vgl. Oettermann, S. 17. Vgl. Nigel Gosling: Nadar. München 1977, S. 16ff.

30 Vgl. dazu die Arbeit Wonderful Paris aus der Reihe Bon Voyage (1994) von Jacob Tue Larsen. In: Neue Gesellschaft für bildende Kunst (Hg.): Begrenzte Grenzenlosigkeit. Berlin 1996, S. 32.

31 Neumann, S. 84.

32 Schnelle Schneyder, S. 59.

33 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In ders.: Gesammelte Schriften I. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 500.

34 Laszlo Moholy-Nagy: Malerei, Fotografie, Film. Mainz/Berlin 1967, S. 26f.

35 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main 1995, S. 46.

36 Vgl. dazu ausführlich: Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt 1992, S. 256 ff.

37 Angaben nach Auskunft der New Yorker Surveillance Camera Players