Konrad Tobler

Der wahre Kunstsprung von Thun nach Venedig


Die Thuner Performance-Künstlerin Chantal Michel macht sich in ihren Inszenierungen selbst zum Requisit. Und schafft damit Situationen, in denen alles Mögliche geschehen könnte. Mit ihren Fotoarbeiten ist die 33-jährige Künstlerin nun an die internationale Kunst-Biennale von Venedig eingeladen worden.

Was wirklich noch geschieht, weiss niemand. Manchmal tritt das ein, was bisher immer als das Unwahrscheinlichste gegolten hat. «Haben Sie es schon gehört? Ich bin an die Biennale von Venedig eingeladen.» Das war vor kurzem, während einer Vernissage im Thuner Kunstmuseum. Chantal Michel gehört zu der zahlenmässig kleinen, aber deswegen nicht minder aktiven Kunstszene Thuns. So bescheiden und fast beiläufig sie die Mitteilung über ihren Karrieresprung macht - nichts anderes verspricht eine Teilnahme an der ältesten internationalen Kunst-Biennale -, so freudig Chantal Michel über dieses Ereignis spricht: Ihr steht die Überraschung immer noch ins Gesicht geschrieben.
Sie hat es wirklich in keiner Weise erwartet: Harald Szeeman, der internationale Ausstellungsmacher par excellence, hat die 33-Jährige für die grosse Biennale-Ausstellung nominiert, die nächsten Samstag eröffnet wird. Sie gehört damit - zusammen mit acht anderen Schweizer Kunstschaffenden - zu den wenigen Dutzenden aus aller Welt, die in der nächsten Zeit die Chance zum grossen Spiel im unentwegt bewegten internationalen Kunstmarkt bekommen.

Der Schrank ist die Palette
Auch dieser Erfolg verbirgt es aber nicht: Das Geheimnis von Chantal Michel ist das Verbergen. Und das, obwohl sich die Performance-Künstlerin seit Jahren immer wieder selbst inszeniert - perfekt fotografiert vom erfahrenen und bekannten Fotografen Alexander Egger. Die Tatsache, dass Chantal Michel sich selbst als Modell verwendet, hat selbstverständlich schon bald die Aufmerksamkeit von Illustrierten auf sie gelenkt, zumal die Künstlerin eine durchaus fotogene Person ist.
Und dann wurde in den Reportagen eine typische Reduzierung vorgenommen: Chantal Michel, die Künstlerin mit den Dutzenden von Kleidern, Chantal Michel, der Paradiesvogel. Falsch. Denn die Kleider verwendet die Künstlerin wie eine Malerin ihre Palette. Und ebenso falsch ist die Unterstellung, die Künstlerin baue sich als neue Pipilotti Rist auf. Oder - auch das wurde geschrieben - sie oute sich als Hypernarzisstin.
Über alle diese Klischees, die verbreitet wurden, regt sich Chantal Michel - an sich eine ruhige, zurückhaltende Frau - einfach auf: «Schreiben Sie nicht über meine Wohnung, schreiben Sie nicht über meine Kleider, schreiben Sie nicht über meine Person», bat sie einmal. Zu Recht, denn was die Künstlerin sagen will, sagt sie mit ihren Werken. Und auch über diese reflektiert sie nicht in theoretischen Exkursen, sondern durch die nächste Arbeit.

Die Kunst des Verpackens
Chantal Michel enthüllt durchs Verbergen. Das war schon in der ersten Werkgruppe so, mit der die gelernte Keramikerin 1994 beim kantonalen Aeschlimann-Kunst-Stipendium - ebenfalls im Kunstmuseum Thun - auffiel. «Brutto, Netto, Tara» hiess die damals ausgezeichnete Arbeit, die sich mit Verpackungen, mit Unsichtbarem, mit Zwischenräumen beschäftigte: mit dem Geheimnis des Sichtbaren.
Dann, noch während ihrer Ausbildung an der Kunstakademie Düsseldorf, kam die Überraschung: Chantal Michel hatte zum Video gewechselt und zeigte zuerst eine kleinere Arbeit, in der eine Wiese die poetische Hauptrolle spielte. Dann die zweite Überraschung: Die Künstlerin, die bisher nur aus Freude und für den Broterwerb als Strassenartistin aufgetreten war, trat selbst in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten.

Wie im Märchen
Dass sie die Hauptrolle spielt, hat sie nie verborgen - so wenig wie Pipilotti Rist oder die US-Verwandlungskünstlerin Cindy Sherman. Was Chantal Michel aber häufig verbirgt, ist ihr Gesicht. Ihre Person ist ein Bestandtteil einer farblich und formal genau überlegten Raum-Inszenierung: Eine rot gekleidete Frau liegt in einem Kellerraum mitten in sich windenden roten Schläuchen. Eine Frau im gelben Rock hängt in einem kahlen Raum wie hingeworfen über einer gelb gekachelten Wand. Eine Frau, gekleidet in eine rote Abendrobe, liegt auf einer Treppe mit einem roten Teppich.
Chantal Michel liebt das Märchenhafte. Auch das verbirgt sie nicht. Der Kern vieler Märchen ist die rätselhafte Verwandlung, die trotz aller Schönheit unheimlich wirkt. Genau das liegt in den grossformatigen, quadratischen Fotografien verborgen, mit denen die Performance-Künstlerin bekannt geworden ist und an Ausstellungen im Fotomuseum Winterthur, mit Einzelausstellungen in Amiens und Freiburg im Breisgau vertreten war.
Die Künstlerin macht sich also selbst zum Requisit in ihren Stillleben oder Interieurs. Indem sie durch bestimmte Outfits, Haltungen und Posen in einem realen Raum - etwa in der ehemaligen Bierbrauerei Gurten - auftritt, verwandelt sie den Raum. Die durch die Fotografie bezeugte reale Situation wirkt fiktiv. Das Geschehen wird bis zur Ungewissheit absurd - und unheimlich. Durch die Anwesenheit der Künstlerin ergibt sich plötzlich eine Geschichte, die möglich sein könnte: Was ist geschehen? Was ist los? Ist ein Verbrechen geschehen? Ist alles nur ein Traum? Es könnte alles Mögliche geschehen - was, bleibt offen, bleibt unfassbar. Genau dieses Unfassbare macht die Künstlerin sichtbar, indem sie sich selbst im Raum einlässt. «Die Wirklichkeit stellt eine Unwahrscheinlichkeit dar, die eingetreten ist»: So lautet der programmatische Titel einer Arbeit von 1999.

Man kann ja nie wissen
Nun: So unwahrscheinlich es ist, dass eine Künstlerin nach einer noch eher kurzen, jedoch intensiven Karriere bereits nach Venedig eingeladen wird, so offensichtlich ist diese Wirklichkeit nun eingetreten. Das weiss auch Michael Krethlow, der Berner Galerist, der das Werk von Chantal Michel bisher in seinen beiden «Kabinett»-Galerien in Bern und Zürich vertritt. Auch er reagierte auf die Nomination vollkommen überrascht. Ehrlich, denn: Was könnte noch alles geschehen? Man kann ja nie wissen.
Biennale von Venedig: Eröffnung am kommenden Samstag. Der internationale Kunstevent dauert bis 4. November.
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