Das Stottern der Helden, oder: Was hat das Kollektiv, was das "Ich" nicht hat?


Matthias Michalka
Vortrag im Kunstverein Ludwigsburg 98
im Rahmen der Ausstellung "Den Rest" von Anita Leisz


1. Teil:

Wohl kaum eine andere Figur ist zum Einstieg in eine kritische Auseinandersetzung mit "Heldentum" im Kunstbereich ein geeigneteres "Studien-Objekt" als der 1912 in den USA geborene Jackson Pollock, seines Zeichens Hauptvertreter des "Abstrakten Expressionismus".
"Ist Jackson Pollock der größte lebende Maler in den Vereinigten Staaten?" fragte sich 1949 das populäre "Life magazine".
Wenn es nach dem weithin anerkannten Kunstkritiker Clement Greenberg ging, dann war darauf bereits Ende der 40er Jahre mit einem klaren Ja zu antworten. In den 50ern und 60ern wäre diese Frage wohl nur noch rhetorisch zu verstehen gewesen. Pollocks künstlerischer Ruhm bzw. sein Status als heroisches Individuum in Amerika aber auch in Europa übertraf bei weitem alles damals Dagewesene.
Worauf aber gründete sich diese Autorität, dieser Helden-Status? Noch bevor Clement Greenberg Pollock 1945 als "the strongest painter of his generation and perhaps the greatest one to appear since Miro" emporhob, oder ihn 1947 als "the most powerfull painter in contemporary America" bezeichnete, lieferte der Kritiker 1939 mit seinem Aufsatz "Avantgarde und Kitsch" gleichsam die Kriterien, die für seine folgenden Urteile bestimmend sein sollten: "Letzten Endes versucht der avantgardistische Dichter oder Künstler Gott nachzuahmen, indem er etwas erschafft, das aus sich heraus gültig ist, so wie eine Landschaft - nicht das Bild einer Landschaft - ästhetisch gültig ist; etwas Gegebenes nicht geschaffenes, von jeglicher Bedeutung, Ähnlichkeit und Beziehung zu einem Vorbild Unabhängiges. Der Inhalt sollte sich so vollständig in Form auflösen, daß weder das künstlerische oder literarische Werk als Ganzes, noch ein Teil von ihm auf irgend etwas zurückgeführt werden kann, das außerhalb von ihm liegt". Greenbergs Forderung nach absoluter Autonomie für Kunst und Künstler, nach Kunst als Kunst - l'art pour l'art - sah er in der Person wie im Werk Jackson Pollocks prototypisch repräsentiert.
Verkürzt gesagt verkörperte Pollock den Typus des freien, gänzlich aus sich selbst heraus wirkenden Einzel-Kämpfers bzw. Einzel-Künstlers, des Super-Individualisten, der, unabhängig von äußeren Einflüssen, von Gesellschaft, Politik oder Massenkultur, völlig mit seiner Kunst verschmolz, dessen "persönliche Vitalität", "natürliche Dynamik", "herausragende Intensität", "Stärke" und "genuine Intuition" sich ungefiltert und unverfälscht auf die Oberfläche seiner Bilder übertrug.
Greenbergs Künstler-Bild bzw. Kunst-Ideale decken sich signifikant, wie könnte es anders sein, mit der gesellschaftlichen Ideologie im Nachkriegsamerika, wo der Bedarf an "Gott-Äquivalenten", d.h. an gottähnlichen Individualisten, an Helden, Genies und autonomen, kohärenten und unumschränkt souveränen Subjekten als Leitfiguren und Führer nicht hoch genug veranschlagt werden kann. (Als kurze Randbemerkung sei hier erwähnt, daß komplementär zu diesen gesellschaftlichen Autonomie- und Freiheits-Phantasmen, sozusagen als die andere Seite dieser Medaille, gleichzeitig das Gespenst vom Feind des freien Amerika, der totalitären kommunistischen Bedrohung von außen, d.h. der UdSSR wie auch von innen - Stichwort Kommunistenverfolgung durch McCarty - auftauchte.)
Als bevorzugte Inkarnation des unbeugsamen Freiheitskämpfers, des absoluten Individualisten fungierte, nachdem der klassische Kriegsheld in Friedenszeiten an Bedeutung verlor, im Amerika der 50er Jahre der "Lonely Cowboy" à la Johne Wayne oder der mit sich selbst ringende jugendliche Rebell à la Marlon Brando bzw. James Dean. Beide Rolle lassen sich ideal auf Pollock und die Greenbergsche Figur des autonomen Künstlers übertragen, ja wurden von Pollock bestens bedient.

Abb. 2: Pollock vor seinem Ford-Mustang (Pferdersatz), 1952
Abb. 3: James Dean grübelnd
Abb. 4: Jackson Pollock grübelnd
Abb. 5: Jackson Pollock sinnierend

Wobei hier betont sei, daß diese Abbildungen des Künstlers autorisierte Darstellungen waren und das öffentliche Bild der Person wiedergaben.
Pollock, der die Leinwand in einer extrem dramatischen Weise attackierte und gestaltete, verglich selbst diesen künstlerischen Gestaltungsprozeß des "über die Bilder laufens", des "um sie herum gehens", "hineingehens" und wieder "herausgehens" mit einem Stierkampf in der Arena.

Abb. 6:. Pollock at work, 1950

Ein Mann im Kampf mit sich und der Natur, der in Western-Manier über sich selbst hinauswächst, wobei die Gesellschaft unwichtig scheint und weitgehend ausgeblendet wird.
Angesichts derartiger Inszenierungen wundert es kaum, daß Pollock der in Kalifornien aufwuchs, als "Billy the kid of the Manhatten art world" gefeiert wurde.

Sehr treffend formulierte in diesem Zusammenhang die Kunstwissenschaftlerin Erika Doss:
"Pollock was a cold-war-version of the savage and the frontier-man, of the artist-outcast and artist-hero."
Er verkörperte den Mythos der absoluten Freiheit und Autonomie und verhalf darüber hinaus der Super-Macht USA erstmals in der Geschichte auch im künstlerischen Bereich zu internationaler Führerschaft.

In theoretischer bzw. philosophischer Hinsicht fällt es nicht schwer, den Helden Pollock mit der gleichzeitigen existenzialistischen Feier des entfremdeten, freiheitssuchenden Individuums in Schriften von Kierkegaad, Camus oder Sarte kurzzuschließen. Diese Figur des individuellen Schöpfers oder autonomen Autors als intellektuelles Subjekt-Paradigma der Nachkriegsära geriet allerdings in den späten 50er und 60er Jahren auf breiter Front ins Wanken. Helden wurden hinterfragt, in der Regel männliche Autorität und damit einhergehende Omnipotenz-Phantasien verloren an Glaubwürdigkeit, die Vorstellung existentieller Identität bzw. unabhängiger, selbstbewußter Subjektivität wurde durch theoretische Erkenntnisse in gleich mehreren wissenschaftlichen Bereichen massiv untergraben.

Auf drei Stoßrichtungen dieser Argumentationen, möchte ich, aufbauend auf eine sehr pointierte Zusammenfassung des Kulturwissenschaftlers Stuart Hall, hier kurz zu sprechen kommen. Sie stammen aus der Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie, konkret aus dem Marxismus, aus der Sprachtheorie sowie der Psychoanalyse.

Zunächst zu Karl Marx: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen."
In einer subjekt-kritischen Leseweise ergibt sich daraus, daß Individuen nicht wirklich die Autoren oder Agenten der Geschichte sein können. Sie agieren lediglich auf der Basis historischen Bedingungen, die von anderen geschaffen bzw. bestimmt wurden und die ihren eigenen Handlungsrahmen maßgeblich vorbestimmen.
Die Vorstellung individuellen, autonomen Handelns ad acta legend argumentierte daran anschließend der französische Sozialwissenschaftler Louis Althusser: "Indem Marx gesellschaftliche Verhältnisse wie z.B. Produktionsverhältnisse, die Ausbeutung der Arbeitskraft, die Kapitalkreisläufe, statt irgendwelcher abstrakter Vorstellungen vom Menschen ins Zentrum seines theoretischen Systems rückte, überwand er zwei grundlegende Behauptungen der modernen Philosophie: 1., daß ein allgemeines Wesen des Menschen existiert und 2., daß dieses Wesen das Attribut jedes einzelnen Individuums ist, das sein wirkliches Subjekt ist."

Die zweite Richtung, aus der Kritik am modernen Subjektverständnis aufkam, entwickelte sich ausgehend vom strukturalistischen Linguisten Ferdinand de Saussure: Er verwies darauf, "daß wir nicht im absoluten Sinn die Autoren der Aussage, die wir treffen bzw. der Bedeutung, die wir in Sprache ausdrücken, sein können." Wollen wir Bedeutung entwickeln, müssen wir Sprache so benutzen, daß wir den Sprachregeln gehorchen bzw. deren Bedeutung in unserer Kultur berücksichtigen. Sprache ist nichts individuelles sondern ein kollektives Band, das uns als Einzelnen vorausgeht. Zu sprechen bedeutet nicht nur unsere innersten, ureigensten Gedanken zu artikulieren, sondern gleichzeitig ein vorhandenes sprachliches und kulturelles Bedeutungssystem mitzubenutzen, das einen selbst "spricht", d.h. mitdeterminiert. Hinzu kommt, daß die Bedeutung von Worten und Begriffen nie eindeutig im Verhältnis zu Objekten und Dingen außerhalb der Sprache festgelegt ist. "Bedeutung entsteht durch Ähnlichkeit und Differenz, die Worte zu anderen Worten innerhalb der sprachlichen Codes haben." Ich weiß zum Beispiel, wer ich bin, nur in Relation zu den anderen, die ich nicht bin und von denen ich mich unterscheide.
Saussure weitergedacht konstatiert etwa Jaques Derrida, daß die SprecherInnen die Bedeutung der Begriffe und Worte nie endgültig fixieren können. Worte haben zu ihrer bestimmbaren Bedeutung stets eine Differance bzw. ein Supplement, das die Schließung konterkarriert und die Identität vermeintlich eindeutiger Inhalte instabil hält.

Kommen wir zur dritten Stoßrichtung, aus der Kritik am autonomen Subjekt-Modell laut wurde.

Sie basiert auf den psychoanalytischen Erkenntnissen Sigmund Freuds: Seine Theorie, daß Identität, Sexualität und die Strukturen unseres Begehrens nicht nur den Regeln der Vernunft folgen, sondern ganz wesentlich auf der Grundlage psychischer und symbolischer Prozesse des Unbewußten ablaufen, brachte das Konzept eines selbstbewußten und wissenden Subjekts mit seiner stabilen und kohärenten Identität gehörig ins Wanken. Daran anschließend entwickelte ab den späten 40er Jahren der Psychoanalytiker Jacques Lacan sein Konzept des Ichs, in dessen Inneren bzw. Zentrum nicht Selbstgewißheit und Souveränität steht, sondern ein Mangel, eine Lücke die vom Subjekt immer wieder phantasmatisch überbrückt oder "verstopft" werden muß. Mit Lacan erweist sich Subjektivität und Identität als nichts natürlich Gegebenes, sondern als in der Beziehung zu unserer Umgebung bzw. zu anderen Gebildetes. Verkürzt gesagt läßt sich das Eigene oder das Ich nicht autonom und feststehend sondern nur als relationale Größe verstehen. Das Individuum definiert sich im Verhältnis zu seinem Außen und nur in dieser Unterscheidung von oder Identifikation mit dem Anderen erhält es eine Vorstellung dessen, was es ist. Um derart in eine Beziehung zur Umgebung zu treten, bedienen wir uns Zeichen bzw. Symbole. Als Subjekte übernehmen wir eine Position bzw. Rolle in der symbolischen Ordnung der Gesellschaft und erlangen dadurch Identität und Selbt-bewußtsein. Ein Selbstbewußtsein das allerdings nie total oder absolut sein kann, denn ihm wird stets, wie zuvor bereits erwähnt, der Kern, der letzte Grund in seinem Inneren fehlen. Veranschaulichen läßt sich dieses Problem sehr gut am Beispiel der Grenzen unserer Selbstreflektion. Je weiter man die Erforschung des eigenen Grundes auch treibt, man wird ihn nie endgültig greifen können. Es bleibt stets der eigene Blinde Fleck, die Stelle, an der man steht, wenn man reflektiert, und die man dadurch verdeckt. Wir sind daher, um Identität und Souveränität zu erlangen, ganz allgemein darauf angewiesen, diesen Mangel in uns dadurch zu kompensieren, daß wir unseren nicht zu findenden letzten Grund außerhalb unserer selbst verlegen. - wir übertragen ihn auf absolute Autoritäten, auf Gott oder andere Allmächtige. Gott bzw. omnipotente "Gott-Äquivalente" wie Helden, Genies oder Autoritäten dienen uns immer wieder als Kompensatoren unserer unumgänglichen Fehlerhaftigkeit, unserer menschlichen Mangelhaftigkeit. Diese letzten Gründe müssen von uns als absolut und total entworfen werde, denn nur ihre gänzliche Kohärenz erlaubt uns, in ihnen den uneingeschränkten Ausgleich für unseren eigenen Fehler zu finden, d.h. in der phantasmatischen Identifikation mit ihnen, bzw. im Glauben an sie uns als souveräne Subjekte zu entwerfen und zu sehen. Anders formuliert: Gott beispielsweise muß sein eigener Grund sein, insofern er für uns den letzten Grund darstellen soll. D.h. Gott ist selbst ohne Grund, er ist mit sich selbst ident, Gott ist Gott. Wie gesagt stehen wir hier ganz allgemein vor dem Problem absoluter, vernünftiger Systeme, die aus sich selbst heraus nicht letztzubegründen sind. Ein rationales Ganzes muß,um total zu sein, stets ein Element beinhalten, das nicht erklärt werden kann. Gott oder absolute Autoritäten sind Fremdkörper in der Kette des Wissens, sie entziehen sich vernünftiger Vermittlung oder Begründung. Aber eben als solche sind sie das Element, durch das die vernünftige Totalität bzw. das selbstbewußte Subjekt sich bildet. Da uneingeschränkte Autoritäten oder Götter selbst ohne Grund sind, sind sie für das Subjekt als Stütze zugleich alles und nichts, völlig mit sich selbst identisch, sozusagen der reine Name, das reine Zeichen. Gott ist Gott, darüber hinaus gibt es für ihn keinen Grund mehr. Er ist als Name absolut und leer zugleich. Nicht zufällig beginnt das Vater unser mit "Geheiligt werde dein Name..."
Ich bin hier deshalb relativ insistent und ausführlich, da die Bedeutung des Namens nicht nur in der Religion oder für absolute Autoritäten wesentlich ist, sondern insbesondere im künstlerischen Feld zum Tragen kommt. Denken wir nur an die immense Bedeutung des Namens von Helden oder Künstlern in Form des Autogramms oder der Signatur.

Heros, der gottähnliche Held der griechischen Mythologie, entstammt bezeichnender Weise aus der Verbindung eines Gottes mit einem Menschen. Sowohl Gott als auch Helden vermögen Wunder oder wunderbare Taten zu verbringen. Sie können Dinge bewirken, die nicht (mehr) begründet bzw. erklärt werden können. Helden haben für uns dieses gewisse, nicht zu begreifende Etwas, dieses Geheimnis ihres Erfolgs, das ihnen Autorität, Autonomie und vorbildhafte Souveränität verleiht. Dieses magische Etwas, das in ihnen mehr ist als sie selbst, kompensiert bzw. verdeckt bei ihnen die Mangelhaftigkeit bzw. Fehlstelle, mit der man sich als vernünftiges Individuum in der symbolischen Ordnung zwangsläufig konfrontiert sieht. Helden ermöglichen uns, in ihnen bzw. in der phantasmatischen Identifikation mit ihnen, das unergründliche, nicht zu erklärende Etwas, kurz DEN REST und damit Omnipotenz und eigene Souveränität zu finden. Helden fungieren für uns daher als Ich-Ideale, mittels Übertragung bzw. Identifikation mit ihnen als Garantie und Grund unserer eigenen Kohärenz, Ganzheit und uneingeschränkter Handlungsfähigkeit als vernünftige Subjekte.

Zurück zur Kunst
Die selbe Logik, die ich hier eben skizziert habe, ist am Werk, wenn wir es mit gottähnlichen Künstlern bzw. mit heroischen Individuen Greenbergschen Zuschnitts zu tun bekommen, oder wenn in Anlehnung an "Gott ist Gott" das Motto "Kunst ist Kunst" in den Raum gestellt wird.
Betrachten wir aus der eben entwickelten Perspektive nochmals die Figur Jackson Pollock genauer: Charakteristisch für Pollocks Selbstdarstellung bzw. das öffentliche Bild Pollocks ist seine Selbstversunkenheit, seine Nach-innen-Gekehrtheit, seine Rätselhaftigkeit und Unnahbarkeit.
Abb. 4: Pollock
Abb. 5: Pollock
Sie sichert ihm sein Geheimnis, etwas in ihm, das mehr ist als er selbst, kurz DEN REST oder das gewisse Etwas, das wir selbst so sehr begehren, und das wir uns im Glauben an Pollock oder in der phantasmatischen Identifikation mit seiner vermeintlich unergründbaren Intuition oder seiner ihm von uns zugeschriebenen Dynamik zu sichern suchen.
1973 schrieb der Kunstkritiker Nigel Gosling: " Wenn es Pollock nicht gegeben hätte, hätte ihn "Time - life" sicher erfunden."
Dieses kritische Statement, mit dem die ideologische Bedeutung Pollocks für das Nachkriegsamerika herausgestrichen werden sollte, übersieht bei allem guten Willen das Entscheidende: Pollock hat es so nicht gegeben, was es gab war der Name, der Mythos Pollock, die Figur Pollock, auf die das Ich-Ideal einer widersprüchlichen Gesellschaft und verunsicherter Individuen im Nachkriegsamerika der 50er Jahre übertragen bzw. projiziert wurde. Mit der Figur Pollock konnten bestehende Antagonismen und Mängel kompensiert werden, konnte eine Gesellschaft sich sehen, wie sie sich selbst sehen wollte, konnte eine Gesellschaft die sich sehen wollte, um sich zu gefallen, ihr Ich-Ideal entwerfen.
Was dabei unter den Teppich des Natürlichen gekehrt werden mußte, war die Tatsache, daß diese Gesellschaft bzw. jedes einzelne sich mit dem Helden Pollock identifizierende Individuum ihn selbst phantasmatisch als die Kehrseite der eigenen Souveränitätsmängel konstituierte. So verwundert es nicht, daß sämtliche Biografen Pollocks auf die signifikante Differenz zwischen dem Mythos vom natürlichen Helden Pollock und der äußerst unsicheren und alkoholkranken Person Pollock hinweisen. Der Mythos, der Name Pollock ist ein Konstrukt, der souveräne und autonome Held Pollock wie alle Helden als Ich-Ideal zur Kompensation unvermeidlicher Mängel entworfen.

Abb. 7: Andy Warhol, Die Person des Künstlers, Einladungskarte, 1964

Als Andy Warhol 1961 seinen ersten größeren Auftritt als Künstler hatte, war das in etwa zur selben Zeit, zu der die zuvor erwähnte Kritik an souveräner Subjektivität, an selbstverständlicher Autorität und natürlichem Heldentum auf breiter Front einsetzte.
Sein Werk wird in der Regel parallel dazu als implizite Abrechnung mit Greenbergs modernistischem L'art pour l'art und dessen göttlich heroischem Künstlerbild bzw. Autorenverständnis interpretiert.
Die Gründe dafür scheinen einleuchtend:

Abb. 8: Andy Warhol. Campbells Soup Can, 62

- Anstatt wie von Greenberg gefordert rein abstrakt zu arbeiten, malte Warhol gegenständlich.
- Anstatt wie von Greenberg gefordert Kitsch und Massenkultur aus dem Bereich der Kunst herauszuhalten, affirmierte er diese und zeigte Alltägliches.
- Anstatt wie von Greenberg gefordert ganz aus sich selbst heraus zu arbeiten, bediente Warhol sich der Äußerlichkeit und suchte er die Oberflächlichkeit der Konsum- und Medienwelt.
Warhol schien auf diese Weise die wesentlichen damals vorherrschenden Kunst-Ideale und -Vorstellungen zu negieren und darüber hinaus substantielle Subjektivität oder gottähnliche Autor- und Helden-Modelle mit allen Mitteln zu unterminieren. Warhol machte Star- und Heldentum im allgemeinen, ebenso wie seine eigene Rolle als Künstler und Autor, zum expliziten Thema seines Schaffens. Anders als Pollock vermied Warhol es, in charakterischer Pinselführung oder individueller Oberflächenbehandlung Zeichen eigenen Ausdrucks oder Subjektivität zu vermitteln. Im Laufe der 60er Jahre ging er von der Malerei zum Siebdruck über, womit "Handschriftlichkeit" oder persönliche Charakteristiken weitgehend vermieden wurden. Ähnliches gilt für Warhols Wahl seiner Motive, die wie im Fall der Campbell Suppendose bereits millionenfach reproduziert waren und von ihm im doppelten Sinn einfach wiederholt wurden. Als weiteres Beispiel für Warhols Bemühen in seinen Bildern Subjektivität und den Anschein individueller künstlerischer Besonderheit oder Autorität zu vermitteln, zeige ich hier
zwei Abbildungen von Warhols "Do it yourself" Bildern aus dem Jahr 62.

Abb. 9: Andy Warhol, Do it yourself, 1962

Mit ihnen stellt sich scheinbar der Autor Warhol auf eine Stufe mit jedem Kleinkind, das vergleichbare im Supermarkt zu kaufende Ausmalbögen gestaltet.
Die Liste der Mittel, mit denen Andy Warhol die Bedeutung künstlerischer Autonomie und Subjektivität zu negieren scheint, ist lange. Zitate und Interviews kommt dabei eine wichtige Rolle zu: 1966 beispielsweise gab er vor laufender Kamera folgendes Interview:
Warhol: "Am besten, Sie geben mir gleich die Antworten, dann kann ich sie wiederholen, weil ... mir fällt heute nichts ein. Nein, es ist ... ich habe eine Erkältung ..."
Interviewer: "Ich frage drauf los, und Sie antworten ..."
Warhol:"Nein, geben Sie mir auch die Antworten!"
Interviewer: "Vor den Siebdrucken haben Sie Comic strips gemacht?"
Warhol: "Ah ... ich habe Comic strips gemacht - vor den Siebdrucken."
Interviewer: "Und andere Bilder, die nicht mechanisch hergestellt worden sind? Was war das?"
Warhol: "Das war ... ich glaube Anzeigen für Zeitschriften."
Interviewer: "Und dann haben Sie ..."
Warhol: "Und dann habe ich ..."
Interviewer: "Angefangen ..."
Warhol: "Angefangen ..."
Interviewer: "Äh ..."
Warhol: "Äh ..."

Warhol selbst weigert sich, selbst irgendwelche bedeutsamen Aussagen zu machen. Er behauptet, nichts zu sagen zu haben und will, daß man ihm zu den Fragen auch gleich die Antworten diktiert. Er wiederholt lediglich, was ihm von außen vorgegeben wird, er selbst vermittelt nichts, behauptet in seinem Inneren nichts Positives, nichts Nennenswertes, sondern lediglich Leere zu haben. Er selbst zeigt sich als reine Oberfläche, auf die von außen projiziert werden kann. Präsentiert uns hier nicht Warhol explizit die an Pollock erkannte Funktionslogik des göttähnlichen Künstlers, eines Namens, der keinen Grund mehr hat, der leer ist und auf den wir unsere eigenen Ganzheits- und Souveränitätsbegehren als Subjekte unbewußt übertragen?
Zitat Warhol: "Wenn ihr alles über Warhol wissen wollt, braucht ihr bloß auf die Oberfläche meiner Bilder und Filme und meiner Person zu sehen: Das bin ich. Dahinter steckt nichts."

In vergleichbarer Weise behandelt Warhol die Bilder der Helden und Stars seiner Zeit.
Er verwendet bereits millionenfach verbreitete Abbildungen, die im Laufe der Zeit zur reinen Oberfläche, d.h. zu Klischees wurden und mit den "realen" Personen kaum mehr etwas zu tun haben. Hinzu kommt, daß Warhol vielfach Filmstars abbildet, deren Rollenbild sowieso nie mit der Persönlichkeit ihrer Darsteller deckungsgleich ist. Diese Bilder wurden dann auch noch multipliziert, 100 mal wiederholt und dadurch demonstrativ jeglicher Besonderheit entleert.

Abb. 12: A.Warhol, Marilyn, 62
Abb. 13: A. Warhol, Single Elvis, 63

Zur Produktion seiner Bilder bedient sich Warhol im Laufe der 60er Jahre nicht nur, wie schon erwähnt, anonymer Repro-Techniken, sondern er übertrug auch einen Großteil der damit verbundenen Arbeit an seine Mitarbeiter in der von ihm gegründeten Faktory.
Den Gipfel seiner Absagen an autonome Subjektivität oder heroische Individualität aus sich selbst heraus schöpfender Künstler, sowie einen Frontalangriff auf Greenbergs Ideale im allgemeinen und die Figur Jackson Pollock im besonderen, bildet wohl eine mit "Oxidations-Paintings" betitelte Bilderserie aus den späten 70ern.

Abb 14.: A.Warhol, Oxidation Painting, 78
Abb 15.: A.Warhol, Oxidation Painting, 78

Pollocks abstrakte Bilder werden als "Drip Paintings", als Tröpfel-Malereien bezeichnet, da er die Farbe nicht mehr aufstrich, sondern sie auf die Leinwand tröpfeln ließ. Auch Warhol "tröpfelte", allerdings nicht mit Farbe. Er urinierte auf Metalloberflächen, die durch die Harnsäure oxydierten. Auch Warhol arbeitete, wie von Greenberg gefordert, völlig aus sich selbst heraus und verunglimpfte dessen Ideale dabei aufs Gröbste. Haben wir es hier nicht mit einer völligen Negation von "gottähnlichen Künstlern" und heroischen Autoren zu tun?
Ja und Nein. Obwohl Warhols Negation von Subjektivität und Autorität gewiß beißend und weitgehend war, schaffte er es doch, verbunden mit einer Reihe praktischer Bedingungen und einem Set zusätzlicher Manöver, seinen Namen an die Stelle Pollocks als "Amerika's most important Artist" zu setzen. In den 60ern wurde Warhol zum absoluten Super-Star. Andy Warhol wurde durch die Kritik am gottähnlichen Autor, am absoluten Subjekt selbst zum absoluten Star bzw. zu Amerikas neuem Kunst-Helden.
Warhol wurde trotz seiner Kritik und seines Spottes nicht nur von seiner unmittelbaren Umgebung als "Holly Andy", als heiliger Andy gefeiert und verehrt. Und Warhol selbst genoß es.
Es ist hier nicht der Raum und es geht mir hier weniger darum, auf den Übergang vom Helden zum Star, für den Warhol als Künstler selbst steht, differenziert einzugehen; zu diskutieren, wie Helden vermittels der ihnen zugeschriebenen bzw. ihnen geglaubten wunderbaren Taten und Eigenschaften zu ihrem absoluten, gottähnlichen Namen kommen, wie aber Stars reine Oberflächen, reines Image, Leere und absolute Namen ohne den wunderbaren Vermittlungsschritt der Helden darstellen.
Um was es mir geht ist gleichzeitig der Titel dieses Vortrags: "Das Stottern der Helden". Es geht mir um die Figur des postmodernen Stars, Künstlers oder Autors, der in sich höchst widersprüchlich ist, der behauptet, sich selbst permanent zu unterwandern, sich ironisch oder beißend als souveränes Subjekt in Frage zu stellen und durch die stetige und gleichförmige Wiederholung dieser Fragestellung selbst Star-Status erlangt. Es geht mit anderen Worten um das Paradoxon, wie es möglich ist, daß im Namen der Kritik die Affirmation Einzug hält.

Im wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten Warhol wahrzunehmen:
1. Er ist so leer und hohl, wie er tut, bzw. hinter seiner Beteuerung absoluter Oberflächlichkeit steckt nichts weiter. Dann wäre er einfach doof und dumpf, tatsächlich eine Null, wie so mancher andere, und würde von uns wohl kaum beachtet.
2. Er inszeniert diese Leerheit als gezielte Negation der herrschenden Ideale des Systems, in dem er sich bewegt und dessen Regeln er nur zum Teil bricht, aber darauf komme ich gleich im Anschluß. Dann ist er automatisch von uns in die Position des wissenden, souveränen Autors reinstalliert, dessen künstlerische Kritik uns so trifft, daß wir sie glauben, bzw. uns mit ihr identifizieren, denn wir können ja nicht sicher wissen, ob nicht doch der erste Fall (1.) zutrifft . An die Stelle des Glaubens bzw. der Identifikation mit Pollock tritt so diejenige mit Warhol. So erhalten wir einen souveränen Autor, der uns kritisch vermittelt, daß wir ihn als Autor und Star selbst machen, weil wir ihn oder etwas zum Kaschieren unserer eigenen Mängel benötigen. In diesem Fall wissen wir nun, daß wir nichts wissen, insofern wir dieses Wissen einem geheimnisvollen Star, der uns unsere eigene Wahrheit, nämlich unseren Mangel, in umgekehrter Form zurückgibt, glauben. Dieses Wissen allerdings läßt sich problemlos genießen, den Andy Warhol ist in ihm mit uns.
Andy Warhol selbst wirft bei genauerer Betrachtung nicht einfach sämtliche Stützen der Kunst oder des Kunstsystems über Bord, seine Negativität ist stets ambivalent. Es bleiben immer gerade soviel Hinweise auf Glaubwürdigkeit erhalten, daß es möglich aber nicht sicher ist, daß er weiß was er tut und er doch nicht ganz so hohl ist, wie er sagt bzw. scheint. So bleibt ihm sein gewisses Etwas in Form einer rätselhaften Ambivalenz erhalten. Die praktischen Bedingungen für diese relative "Glaubwürdigkeit" waren beispielsweise Andy Warhols Kunstausbildung, sein Wissen über die klassische Avantgarde usw. Warhol kannte sich im aktuellen Kunstgeschehen sehr gut aus, er interessierte sich frühzeitig für Jasper Johns und Robert Rauschenberg, die Erneuerer der Malerei nach Pollock, die Alltägliches wieder bildwürdig gemacht hatten und die Autonomie des Kunstsektors dadurch in Frage stellten. Warhol war mit der Kunstszene vertraut, pflegt den Umgang mit Händlern und Kunstexperten, die ihn auch berieten, und er war als Künstler in dieser Zeit mit seiner Kritik am gängige Autonomie- und Autoritätsmodell der Kunst und des Künstlers nicht allein. Zeitgleich mit Warhol arbeitete eine ganze Generation von Pop-Artisten, deren Werke präzise den damaligen Zeitgeist trafen.

Warhol unternahm, gemessen an seiner radikalen Negation der gängigen Kunst-Ideale auf der inhaltlichen Ebene, zunächst relativ wenig, um auch formal nachhaltig an diese inhaltliche Kritik der ideologischen Figur des autonomen Künstlers und souveränen Helden anzuschließen, d.h. um sich real der Form und den praktischen Bedingungen des Kunst-Star-Modells und damit dem Begehren des Kunstsystems zu entziehen. Er lieferte zumindest zu Beginn seiner Karriere signierte, handelbare Tafelbilder im traditionellen Kunst-Medium der Malerei, bewahrte also die traditionelle Kunst-Form ebenso wie Werk- und Warencharakter und änderte de facto auch nichts am traditionellen Verhältnis Autor-Rezipienten bzw. Produzent -Konsument. So konnte letztlich durch die Form, durch die praktische Umsetzung Warhols inhaltlicher Auseinandersetzung mit kritischen Inhalten, verbundenen mit deren stetigen und stabilisierenden Wiederholung, im System Kunst alles beim alten bleiben. Die Kunst konnte im Namen Andy Warhol ihren widersprüchlichen Star finden und sich dadurch selbst reproduzieren, und Warhol konnte durch dieses sich weiter im Kreis drehende und wiederholende Kunstsystem zu dem werden, was er immer schon sein wollte. Zu Andy Warhol Superstar.


1.Teil
Vortrag vom 29.3.98 im Kunstverein Ludwigsburg
im Rahmen der Ausstellung "Den Rest" von Anita Leisz

2. Teil
Vortrag vom 30.3.98 im Kunstverein Ludwigsburg
als Teil eines Präsentations- und Diskussionsabends mit lokalen KünstlerInnen-Kollektiven.