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Hildegard Spielhofer

 

Lass deine Stunden nicht verloren sein. Ich möchte sie hören.

 

Ein Videoportrait meines Vaters. 1993

 

 

 

Einführung

 

1. Gedanke: Mein Vater wurde 70 Jahre alt. In unserer Gesellschaft kein Alter, die Leute sind fit mit 70, denken sie an Udo Jürgens Erfolgsschlager "Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an". Und trotzdem spüre ich eine Veränderung in ihm und in mir, das stimmt mich nachdenklich. Ich frage mich, wie gut ich meinen Vater kenne, welche Ereignisse und Geschichten sind mir aus seiner Vergangenheit vertraut, wie hatte er meine Geburt und mein Erwachsenwerden erlebt, was waren und sind seine Wünsche, Vorstellungen und

Begehren, was liebt er und was nicht. Es fiel mir auf, dass ich nicht viel von meinem Vater mitgekriegt habe, weder aus seinen jungen Jahren, aus seiner Gedankenwelt, noch aus seinen Pensioniertenjahren. Ich selber kann mich nur vage an meine Kindheit erinnern. Er könnte mir Dinge aus seinem Leben und aus meiner Kindheit erzählen, die im Dunkeln liegen. Es würde für uns eine Entdeckungsreise werden.

 

2. Gedanke: Was würde sein, wenn er plötzlich sterben würde? Er ist doch schon 70 und das Alter macht sich kontinuierlich bemerkbar. Ich, seine Tochter, hätte die Chance für immer verpasst, ihn besser kennenzulernen. Ich könnte es mir nicht verzeihen. Es gibt Dinge, die zu klären sind und nicht nur mit der Vergangenheit zusammenhängen, die tiefer gehen: Vater-Tochter-Beziehung. Ich will wissen wer mein Vater ist, um mich besser kennenzulernen. Ich habe so lange mit ihm unter einem Dach gelebt und vieles ist mir unklar geblieben. Ich will meinen Vater neu kennenlernen, ihm und mir eine Chance geben. So frage ich ihn, was er zu einem Videointerview meine. Er war sofort damit einverstanden, was mich überrascht und gefreut hat. Wir beginnen mit unseren Gesprächen und verbringen viele Stunden zusammen. Seine Spontanität und Natürlichkeit vor der Kamera beeindrucken mich sehr. Ich entscheide mich Kamera, Ton und Interview meistens allein zu machen, damit die Aussagen und Gespräche möglichst echt und ehrlich werden.

 

 

Idee und Struktur

 

Ich will mit meinem Vater die Interviews und Gespräche alleine führen, wie oben erwähnt. Die Gesprächssituationen in der Stube mit fixer Kameraeinstellung festgehalten, damit ich mich auf die Fragen und Anhorten konzentrieren kann. Es entstehen einerseits Aufnahmen unsere Gespräche und andererseits Aufnahmen von seinen täglichen Arbeiten. Dazu kommt ein dritter Teil, den ich hier mit seiner mystischen Ebene umschreiben werde.

 

Die Gespräche: lch verabrede mich mit ihm und wir treffen uns zu Hause. Zuerst sind es Gespräche, die nicht aufgezeichnet werden, eine Art Annäherungsphase. Nach dieser Phase beginne ich ihm Fragen zu verschiedenen Themen stellen, die ich interessant finde. Er weiss nie nach was er gefragt wird.Ich will die Spontanität fordern und den Moment entscheiden lassen. Zuerst erzählt mein Vater mir chronologisch aus seiner Vergangenheit, Kindheit, Jugend, Schule, Kriegsjahre, Arbeit, Ehe, Kindern' Pensionierung. Danach befrage ich ihn über bestimmte Themen wie Kirche, Militär, Geburten seiner Kinder, Unfälle, Pendeln, Familie, Alter und Krankheit.

Eine Gesprächssituation fällt durch diesen Raster, nämlich jene, die im Estrich der Kirche aufgezeichnet wird, bei der mein Vater das Sakristanengewand trägt. Ich befrage ihn über seine Schattenseiten, seine Begehren und Wünsche. Die Situation ist unwirklich gewählt, wie die Aufnahmen mit dem Steady Cam junior, das eine Schaukelbewegung bewirkt.

 

Die Arbeitsaufnahmen: Ich videotape meinen Vater bei seinen täglichen Arbeiten. Wir schneiden zusammen im Winter die Bäume, die er zu einem Teil selber gepflanzt hatte. Ich beobachte ihn beim Kirchenputzen, ob als Saktristan beim sonntäglichen Gottesdienst bei seinen Gartenarbeitenten, beim Pendeln und beim Z'obig. Für mich bedeutet diese Ebene ein Versuch, meinen Vater durch seine Handhabungen, Arbeiten und alltäglichen Verrichtungen verstehen zu lernen. Es geht mir um Vertrautheit, Nähe und seine geistige Präsenz. Die Aulnahmen sind mit der Handcamera gemacht, weil keine Distanz vermittelt werden soll, sondern Nähe.

 

 

Die dritte Ebene: Sie ist das Uhrwerk der Kirche. Es ist das alte Uhrwerk, das manuell aufgezogen wurde und heute im Staub liegt. Mein Vater hegt eine besondere Beziehung dazu, weil er über Jahre hinaus diese Uhr aufgezogen hat, damit das Dorf die genaue Uhrzeit kennt. Für mich ist es ein Symbol der Zeit, der Vergänglichkeit, der Ehre und des Todes. Sie beinhaltet das Unausgesprochene, das Unklare und Paradoxe des menschlichen Lebens.

 

Der Schnitt: Es gibt drei verschiedene Ebenen, erstens die des Uhrwerks, zweitens die Gesprächs- oder Interviewsituationen und drittens die Arbeitssituationen.

Das Uhrwerk trennt die verschiedenen Themenblöcke, gibt Zeit zum Nachdenken und stellt das Unbewusste, Nichtausgesprochene dar. Das Uhrwerk strukturiert das Video, schliesst ab und eröffnet. Es symbolisiert auch die Zeit, die Zeit eines Menschenlebens, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Teile sind verschieden lang und zeigen verschiedenen Perspektiven des Innenlebens eines alten Uhrwerks. Ich beginne mit dem Uhrwerk und schliesse wieder mit ihm. Die Zeit fliesst weiter, das Leben, sein Leben und mein Leben.

Die Gesprächssituationen sind abgeschlossene Teile. Geburt, Zeit, Kirche und Militär sind die Themen. Sie spitzen sich auf den Punkt zu, bei dem mein Vater nicht mehr bereit ist mir mehr über sein Leben zu erzählen, weil er das Gefühl hat, dass er alles gesagt hat, was zu sagen ist und wiederholen will er es nicht. Die ausgewählten Stellen geben meines Erachtens das beste Profil meines Vaters wieder, es ist unnötig seinen Lebenslauf zu erzählen. sind für mich die Schlüsselstellen.

Die Arbeitssituationen zeigen die Art und Weise meines Vaters. Sie stellen einen anderen Gesichtspunkt als die Interviews zur Entdeckung seiner Person dar, da die Sprache grösstenteils fehlt. Das Bäumeschneiden und wie er es mir erklärt zeigt einen Teil unserer Beziehung oder das Staubsaugen in der Kirche, den Weg zur Kirche hinauf geben einen Eindruck von unserem Verhältnis.

Das Portrait zeigt meinen Vater und mich.

 

 

 

 


 

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